Berlinale 2020 - Sehberichte

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Julio Sacchi
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Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Julio Sacchi » Sa 22. Feb 2020, 10:34

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SCHLINGENSIEF - IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN

Editorin Bettina Boehler hat aus Tonnen von Archivmaterial einen Dokumentarfilm angefertigt, der ohne neues Footage oder Interviews chronologisch Christoph Schlingensiefs künstlerischen Werdegang nachzeichnet, von den ersten Kurzfilmen seiner Kindheit bis zu seinen ausschließlich selbstreferenziellen Arbeiten während seiner Krebserkrankung. Daß diese über zweistündige Archivschlacht nicht beliebig, sondern stringent und unterhaltsam beim Zuschauer ankommt, liegt vor allem an ihrer klugen Entscheidung, einen roten Faden zu finden: Sie betrachtet Christophs Werk vornehmlich anhand seiner Auseinandersetzung mit Deutschland und kontrastiert diesen Konflikt mit seinem Verhältnis zum Elternhaus.

Weil ich mich selbst schon oft durchs Schlingensiefsche Euvre wühlte, war mir gefühlt ein nicht unbeträchtlicher Teil des Bildmaterials bekannt. Und doch war es ein frischer Blick auf ihn, gerade wegen der thematischen Einordnung seiner Aktionen und Arbeiten; mir wurde auch nochmal bei Ansicht der Filmausschnitte deutlich, was für ein fantastisches Auge er für Bilder hatte.Es gibt aber keine Einordnung von außen, Christoph erklärt sich in zahlreichen Interviewausschnitten selbst, das reicht logischerweise von verblüffenden Erkenntnissen bis zu entrücktem Geblubber - aber bei ihm war auch das ja immer sehr einnehmend, man hört ihm gerne zu; Teil seines Erfolges war sicher diese Mischung aus seinem jungenhaft guten Aussehen und dem verschmitzten Charme, die einen harten Bruch zu seinen teils grellen Aktionen bedeutete.

Mir ist es nicht möglich, unpersönlich über Christoph Schlingensief zu schreiben; ich habe ihn im Zuge verschiedener Produktionen zwischen 1996 und seinem Tod schon ein bißchen kennengelernt und sehr sehr gemocht. Er hatte, wie jeder Mensch, natürlich auch Schwächen und Charaktereigenschaften, die manchmal im Kontrast zu seinem Anspruch an andere standen, aber eine irgendwie halbprivate Analayse habe ich hier nicht vermißt. Allerdings gab es auch Momente des Scheiterns bei Christoph, in denen er verloren wirkte und wütend über sich selbst war; diese Momente haben viel über ihn und seine eigenen Konflikte erzählt, etwa wie er bei TALK 2000 an Harald Schmidt verzweifelte oder Michel Friedman ihn bei DDN beherrschte.Diese Momente zeigt der Film nie; Schlinge steht da in Talkshows bei Schawinski oder Fried oder Christiansen und kommt immer als Hero raus, mit dem selbst seine Gegner lachen können. Da kratzt die Doku letztlich dann doch hart am Fanfilm.

Aber das ist legitim, das ist Bettina Boehlers Blick auf ihn, und der Film ist schön und macht Spaß; er wirkt des thematischen Schwerpunkts wegen auch zeitgemäß und aktuell. Vor allem aber, und das ist das Wichtigste, zeigt er nochmal mit Nachdruck, wie sehr Christoph fehlt, wie sehr jemand fehlt, der "den Hitler zerfleddern", den Nazi in Deutschland so lange ausstellen und abnutzen wollte, bis keiner mehr "diese alte Jacke tragen will". Ja, Christoph war toll, und Christoph war wichtig.

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Don Kolleone
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Don Kolleone » Sa 22. Feb 2020, 12:34

Danke für die ausführliche Schilderung :thumbup: Besonders was die letzten beiden Absätze angeht (Scheitern und Fehlen).
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Julio Sacchi
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Julio Sacchi » Mo 24. Feb 2020, 18:13

Vielen Dank, lieber Don!

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Julio Sacchi
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Julio Sacchi » Mo 24. Feb 2020, 20:20

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THE ASSISTANT

Ein Tag im Leben der Assistentin eines erfolgreichen Filmproduzenten. Der Film arbeitet sich in der Darstellung ihrer Aufgaben an den bekannten Unterhaltungsindustrie-Klischees ab, die leider allesamt der Wahrheit entsprechen: Als erste im Büro, saubermachen, ausdrucken, die Frau des Chefs am Telefon beschwichtigen, den verzweifelten Stars erklären, wie man parkt, den Staubsauger benutzt oder sich die Hose zumacht, "it's not your fault".

Natürlich, wir schreiben 2020, ist der Chef ein kaum verklausulierter Harvey Weinstein; Angestellte werden gedemütigt, Anweisungen nur gebellt und alles, was jung und weiblich ist und sich in Hotel oder Büro verirrt, wird gnadenlos weggeflext. Diesen systemischen Mißbrauch erkennt irgendwann auch die Assistentin, doch ihr wird flink versichert, daß sie sich keine Sorgen machen müsse, "you're not his type".

Kitty Green hat das mitunter etwas zu eindeutig (viele Topshots, so daß einem kein Detail entgeht), aber insgesamt sehr klug inszeniert: Statt Bürohektik stellt ihre betont statische Regie die ermüdende Tristesse glaubwürdig heraus. Den Pseudo-Weinstein sieht man nie, man hört nur gekläffte Ansagen am Telefon, fast wie die Lehrer bei den Peanuts. Kitty Green weiß, daß die ihn umgebenden Personen psychologisch viel interessanter sind.

Deswegen ist dieser Film dann doch nicht nur ein später Beitrag zur #metoo-Bewegung, sondern ein gut gedrehter, toll gespielter Versuch, alle Mittäter des systemischen Mißbrauchs zu beleuchten, die freiwilligen wie die unfreiwilligen.

Schöner Cameo von Patrick Wilson auch.

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Sylvio Constabel
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Sylvio Constabel » Mo 24. Feb 2020, 23:30

Dieser Film interessiert mich auch.
Bei Sylvio mag ich, er guckt halt auch viel mit dem Herzen. Jimfried Nullinie

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dejin
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von dejin » Di 25. Feb 2020, 01:07

Hört sich ehrlich gesagt scheiße an.
The awkward moment when you get in the van and the old man has no candy.

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Bewitched240
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Bewitched240 » Di 25. Feb 2020, 02:47

Dreck!

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Julio Sacchi
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Julio Sacchi » Di 25. Feb 2020, 08:34

Exil-722x1024.jpg
EXIL

Pharmaingenieur Xhafer (in Höchstform: Mišel Matičević) fühlt sich an seinem Arbeitsplatz übergangen, gegängelt und ausgegrenzt; zuhause hängt ihm jemand tote Ratten ans Gartentor. Der Kosovoalbaner führt das alles auf seine Herkunft zurück, aber wie soll er das beweisen? Seine Frau (Sandra Hüller) hat eine merkwürdige Art, ihn zu beschwichtigen, "vielleicht mögen sie Dich einfach nicht".

Der Moderator kündigte einen "gerade heute so wichtigen" Film an, eine Zuschauerin fabulierte von Alltagsrassismus. Meiner Meinung nach geht es in EXIL darum gar nicht. Der Film ist, daran läßt Visar Morinos herausragende Inszenierung eigentlich keinen Zweifel, waschechtes Paranoia-Kino.

Xhafers Arbeitsplatz ist das reinste Höllenloch; dunkle Flure, an deren Ende gleißendes Licht keine Erlösung bietet. Alle dort schwitzen in Strömen, es muß unerträglich heiß sein. Zuhause ist alles zu dunkel, in den schmalen Lichtwürfen kurios angebrachter Lampen hat oft nur eine Figur Platz, der Rest ist Schatten. Oft folgt die Kamera Xhafer; wir wollen sehen, was er sieht, aber meistens verdeckt er es oder es ist unscharf. Aber vielleicht würden wir sowieso nicht sehen, was er sieht, man kann hier niemandem trauen.

Visar Morino hat im Publikumsgespräch abgestandene Lynch-Vergleiche mit der naheliegenden Referenz DER MIETER von Polanski ausgehebelt. Damit ist schon viel gesagt über diesen fantastischen Film: EXIL ist - selten genug im gegenwärtigen, nicht nur deutschen Kino - vor allem eines: Er ist unheimlich.

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Blaupause
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Blaupause » Di 25. Feb 2020, 08:44

Das liest sich vielversprechend!

Danke für die Reviews :thumbup:

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Bewitched240
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Re: Berlinale 2020 - Sehberichte

Beitrag von Bewitched240 » Di 25. Feb 2020, 12:00

Das klingt in der Tat gut.

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