Blaupause schaut Hitchcock

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Fr 24. Mai 2019, 12:01

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PSYCHO (1960)

Nach den enorm erfolgreichen 50er Jahren stand Hitchcock der Sinn noch einmal nach radikaler Veränderung. Einer neuen Herausforderung, einem neuen Genre. Dem Abseitigen und Düsterem stets zugetan, hatte er doch bis dato nie einen richtigen Horrorfilm gedreht. Kein Wunder also, dass es Hitch in den Fingern juckte, als er den Roman PSYCHO von Robert Bloch las. Das war das Material mit dem er sein Publikum richtig vor den Kopf stoßen konnte. Statt elegantem Hochglanz-Thrill versprach der Stoff einen morbiden Leinwand-Albtraum mit Szenen, die seinerzeit im Kino noch unvorstellbar waren. Ein ganz anderes Kaliber als der allseits bejubelte NORTH BY NORTHWEST, mit dem der Regisseur gerade die Kassen klingeln hatte lassen.

Hitchcocks Entscheidung stand fest, PSYCHO sollte sein nächster Film werden. Doch es gab massiven Widerstand gegen das Projekt. Allen voran die Produktionsfirma Paramount Pictures, der er einen weiteren Film vertraglich zugesichert hatte, sperrte sich gegen die Idee und weigerte sich das Budget bereit zu stellen. Viel zu obszön und abstoßend sei der Roman - eine Kinoadaption völlig ungeeignet für das zeitgenössische Publikum. Kurzerhand stemmte Hitchcock die Finanzierung selbst mittels seiner eigenen Produktionsfirma Shamley Productions. Zwar hatte er nun weniger Geld zur Verfügung, dafür aber völlig freie Hand bei der Umsetzung. Er nutzte diese Freiheit um sich seiner Kino-Wurzeln zu besinnen und schuf ein finsteres Meisterwerk, das bis heute nichts von seiner atemberaubenden Genialität verloren hat. Alfred Hitchcocks PSYCHO ist heute ein Klassiker der Filmgeschichte, ein Wegbereiter für unzählige Filme, Figuren und Drehbücher - damals war es ein unvorhersehbarer Schlag in die Magengrube des Kino-Publikums.

Die beabsichtigte Schockwirkung wurde durch die geschickte Marketingstrategie noch potenziert. Beispielsweise wurde den Kinos auferlegt, niemanden mehr nach Filmstart in den Saal zu lassen. Der Slogan "Der Film, den Sie nur von Anfang an sehen dürfen oder gar nicht!" war ein genialer Schachzug um das Interesse noch weiter zu steigern. Auch einen klassischen Trailer gab es im Voraus nicht zu sehen. Stattdessen führte Hitchcock in einem kurzen Spot über das Filmset und begann hier bereits mittels augenzwinkernder Hinweise mit der Publikumsmanipulation.

Selbstverständlich sticht auch bei heutiger Betrachtung der Mord in der Dusche an Janet Leigh heraus. Eine geniale und völlig zurecht weltberühmte Szene in 78 Kameraeinstellungen und 52 Schnitten, die dem Zuschauer die Bezugsperson nimmt und die bisherigen 45 Minuten des Films als groß angelegten roten Hering entlarvt. Wie aus dem Nichts heraus nimmt die Geschichte einen komplett neuen Verlauf, die bisherigen Entwicklungen und Konflikte werden irrelevant - ab hier übernimmt Norman Bates und nichts und niemand ist mehr sicher.

Die zweite Mordszene in PSYCHO, in der es den armen Privatdetektiv Arbogast trifft, gefällt mir sogar noch ein Stück besser. Wieder entsteht der Schrecken aus der Unmittelbarkeit heraus mit der die Brutalität sich Bahn bricht. Gefilmt ist die Sequenz im Treppenhaus des Bates Anwesens zunächst von senkrecht oben und dann in der Nahaufnahme
des Gesichts des Opfers während es rückwärts die Stufen hinunterstürzt. Der verwendete vertikale Top Shot (bird's-eye view) verschleiert subtil die Identität des Täters und lässt die Situation surreal wirken. Das folgende Close-Up lässt den Zuschauer gnadenlos in die weit aufgerissenen Augen blicken. Der finale Messerhieb am Boden der Treppe besiegelt das Schicksal eines weiteren Sympathieträgers. Besser kann man das nicht filmen.

Es gäbe noch viele weitere Highlights zu erwähnen, u.a. meine Lieblingsszene, das Gespräch/Verhör zwischen Arbogast und Norman oder die wunderbare Eröffnungsszene mit dem Schwenk auf das halb geöffnete Fenster und hindurch.
Im Endeffekt bleibt aber das unumstößliche Fazit: PSYCHO ist ein makelloses Kunstwerk, das bei jedem Wiedersehen aufs Neue beeindruckt. Der "Schandfleck auf einer ehrenvollen Karriere" (NY Times) wurde nicht nur zum ikonischen Klassiker, sondern auch zu Hitchcocks kommerziell größtem Erfolg.

10/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Mi 5. Jun 2019, 23:36

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SPELLBOUND (1945)

Mit seiner zweiten Arbeit für US-Produzent Selznick versuchte sich Alfred Hitchcock an einem Stoff, der das herkömmliche Thriller-Korsett mit angewandter Psychoanalyse und Freudscher Traumdeutung aufbricht. Ein Novum und eine reizvolle Herausforderung im Hollywood der 40er.
 
Die Geschichte beginnt, als der berühmte Psychiater Dr. Anthony Edwardes (Gregroy Peck) die Leitung in der Nervenheilanstalt Green Manors übernehmen soll. Hier praktiziert auch die Dr. Constance Petersen (Ingrid Bergman) als aufstrebende, junge Ärztin, selbstbewusst und attraktiv. Es dauert nicht lange, da fliegen die Funken zwischen ihr und dem Neuankömmling. Die Situation ändert sich allerdings grundlegend, als sich herausstellt, dass der vermeintliche neue Anstaltsleiter nicht der ist, der er vorgibt zu sein, sondern ein Unbekannter der an Gedächtnisverlust und wiederkehrenden Psychosen leidet. Doch selbst der Mordverdacht am vermissten echten Dr. Edwardes lässt Constance nicht an ihren Gefühlen für den Fremden zweifeln und sie begeben sich gemeinsam auf die Flucht vor dem Gesetz. Bei Constances ehemaligen Lehrer Dr. Brulov (Michael Chekhov) finden sie Unterschlupf und machen sich an die Entschlüsselung des Geheimnisses um die Vergangenheit des Unbekannten. Gregory Pecks Figur muss seine Amnesie überwinden und sich seinem Trauma stellen um seine Unschuld zu beweisen. Doch ist er wirklich unschuldig?
 
Dieses verheißungsvolle Projekt hat zwei große Probleme. Zum einen ein wirres Drehbuch, das unter zu vielen Unglaubwürdigkeiten ächzt und zum anderen eine immense Dialoglast, die eben diese zu kaschieren versucht. Hitchcocks ureigenes Prinzip ‚show, don`t tell‘ weicht hier wortreichen Abhandlungen und Gesprächen über das Geschehene. Das seinerzeit noch reichlich unerforschte Element der Psychoanalyse sorgte nicht etwa für einen mysteriösen und ambivalenten Film, sondern genau für das Gegenteil. Die Macher wollten dem Publikum die Traumatisierung und Amnesie Gregory Pecks als ein möglichst realistisches und logisch erklärbares Krankheitsbild zeigen. Leider. Denn die damaligen Kenntnisse der menschlichen Psyche sorgen für eine abenteuerlich konstruierte Plot- und Charakterentwicklung, der nach und nach jegliche Glaubwürdigkeit abhanden kommt. Aus heutiger Sicht darf auch kräftig geschmunzelt werden, vor allem im letzten Drittel. Seinen absurden Tiefpunkt erreicht SPELLBOUND bei der Deutung eines abstrakten Traumes durch Dr. Peterson und ihrem Lehrer Dr. Brulov, bei dem sich den Beiden in kürzester Zeit Zusammenhänge erschließen, die weiter hergeholt nicht sein könnten. Hitchcock selbst bezeichnete sein Werk später als konfus und zu kompliziert - ich würde ihm hier zustimmen.
 
Doch schieben wir das Negative bei Seite und werfen einen Blick auf die durchaus vorhandenen Glanzlichter des Films. Da wäre in erster Linie die Verpflichtung des Surrealisten Salvador Dali zu nennen, den Hitch für die Umsetzung der Traumsequenz haben wollte. Ein genialer Schachzug, der für den optischen Höhepunkt in SPELLBOUND sorgt. Der visuell umgesetzte Traum Dalis zeigt dem Zuschauer ein abseitiges Kunstwerk aus riesigen Augen, formlosen Gesichtern, scharfen Konturen, und Fluchtlinien die im unendlichen Horizont münden. Diese wenigen aber umso intensiveren Minuten reichen aus, um den Film auf eine höhere Ebene zu bringen. Eine Szene für die Ewigkeit. Umso bedauerlicher, dass ein Großteil davon auf Produzentenwunsch aus der finalen Fassung geschnitten wurde.
Doch auch der Meisterregisseur selbst greift mehrmals in die Trickkiste um das Publikum mit optischen Spielereien und Kniffen zu beeindrucken. Ein gezücktes Rasiermesser wird mit raffinierter Kameraposition bedrohlich riesig eingefangen. Die Perspektive durch ein Milchglas hindurch während dieses geleert wird. Die Überblende von einem Kuss zu mehreren sich öffnenden Türen als wenig subtile aber effektvolle Metapher. Ein Revolver aus der Egoperspektive des Halters.. und für den Bruchteil einer Sekunde färbt sich das durchgehend schwarzweiße Bild in blutiges Rot. Es gibt viel zu entdecken in den knapp 115 Minuten.
Bei den Schauspielern glänzt vor allem Ingrid Bergman mit einer starken Performance, obwohl mir die Entwicklung ihrer Dr. Peterson zur gefügigen Geliebten nicht recht gefiel. Gregory Peck hingegen fällt mit einer wenig überzeugenden Darstellung deutlich ab und sorgt mit seinen aufgesetzt wirkenden Zusammenbrüchen für unfreiwillige Komik.
Einen Oscar (bei sechs Nominierungen) staubte SPELLBOUND dann ausgerechnet für die Musik von Miklos Rózsa ab, die den Film auffallend prominent begleitet und für meinen Geschmack mit einer Spur zu viel Bombast daher kommt.

Unterm Strich hat mich SPELLBOUND enttäuscht. Gemessen an den Erwartungen, die der Film bei mir im Voraus geweckt hatte, sogar sehr. Doch es gibt eben auch die vielen originellen Details, die gelungenen Szenen, die sich einprägen. Die Summe der Teile ergibt für mich zwar kein überzeugendes Ganzes, aber manchmal reicht es ja auch sich an einzelnen Summanden zu erfreuen.

6/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Do 20. Jun 2019, 08:39

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NOTORIOUS (1946)

Der Film beginnt im Vorraum eines Gerichtssaals, in dem soeben das Urteil über den ehemaligen Nazi-Spion Hubermann gesprochen wird. 20 Jahre Gefängnis lautet es. Für seine Tochter Alicia (Ingrid Bergman), die die Taten des Vaters stets verabscheute, bedeutet es eine Befreiung und vielleicht einen Neuanfang. Wortlos hastet sie aus dem Gericht um die Reporterschar und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch der amerikanische Geheimdienst sieht sie weiterhin in der Pflicht auf Wiedergutmachung und überredet die junge Frau in Person des charmanten Agenten Devlin (Cary Grant) zu einem ganz speziellen Auftrag in Rio de Janeiro. Uncle Sam erwartet ihre Unterstützung bei der Observierung eines Nazi-Netzwerks, das sich nach Brasilien abgesetzt hat und zu dem auch Alexander Sebastian (Claude Rains) gehört -  ehemals Freund der Familie Hubermann und damals unglücklich verliebt in Alicia. Nun soll sie das Vertrauen des Herren erneut gewinnen und so die Vorhaben der sinistren Gruppe aufdecken. Der Plan funktioniert wie erhofft und es offenbart sich, dass Alexander im Keller seines Anwesens uranhaltiges Erzpulver, abgefüllt in Weinflaschen, versteckt hält. Woher haben die Schurken das Uran und was haben sie damit vor? Steht etwa ein verheerender Terroranschlag bevor?
 
Das klingt nach dem perfekten Stoff für eine verzwickte Spionagegeschichte nach bewährt erfolgreichem Prinzip, Starbesetzung und exotischer Schauplatz inklusive.
Doch weit gefehlt! Hitchcock hatte keinerlei Interesse am Thriller-Plot des Films.
Das Uran? Hätte genauso gut eine Droge (wie in einer frühen dt. Synchronisation), Diamanten oder Gold sein können.
Der Plan der Schurken? Bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen.
Schießereien und Verfolgungsjagden? Nicht in diesem Film.
Suspense-Szenen? Ja, die gibt es! Aber sie drehen sich bis zum Finale ausschließlich um die so berühmten wie nebensächlichen MacGuffins, die Hitchcock hier besonders genüsslich einsetzt.
 
Die Geschichte, die NOTORIOUS wirklich erzählen will, ist kein Spionage-Thriller, sondern die dramatische Entwicklung der Dreiecksbeziehung zwischen Alicia, Devlin und Alexander.
Alicia, die sich Hals über Kopf in den attraktiven Agenten verliebt, aber trotzdem bereit ist Alexander sogar zu heiraten um ihren Auftrag zu erfüllen. 
Devlin, der ebenfalls Gefühle für Alicia hegt, diese aber hinter einem Schutzschild aus Distanziertheit und Herablassung verbirgt, um seinen Job nicht zu gefährden. 
Und als dritter im Bunde Alexander, der zunächst als klassischer Schurke auftritt, aber schon bald blind vor Liebe jegliche Urteilsfähigkeit verliert und sich in eine ausweglose Situation manövriert.
Konsequenterweise verzichtet der Film auf Nebenkriegsschauplätze oder unnötige Vertiefungen und räumt den Charakteren reichlich Zeit für ihre Entwicklung ein. 
Alle drei Figuren bleiben dabei kaum greifbar, überraschend und vielschichtig. Sie alle spielen ein riskantes Spiel mit verdeckten Karten. Daraus entspinnt das für den Oscar nominierte Drehbuch von Ben Hecht ein Konstrukt, das von Missverständnissen und Lügen geprägt ist, und sich immer weiter in Richtung Eskalation bewegt. 
 
Um es gleich mal vorweg zu nehmen, mir hat NOTORIOUS wahnsinnig gut gefallen. Das hat den einfachen Grund, dass dieser Film, im Gegensatz zu anderen Hitchcock-Werken der 30er und 40er, wie aus einem Guss wirkt. Alle Geschehnisse und Entwicklungen erscheinen logisch und folgerichtig und ergeben ein rundes Ganzes. Perfekt geplant und in Szene gesetzt. Nichts entspringt der reinen Emotion, wie es sonst häufig bei Hitchcock zu beobachten ist.
Der Takt des Films hat keine Aussetzer und steigert sich gleichmäßig zu einer Klimax, die in ihrer Einfachheit so genial wie wirkungsvoll gestaltet ist. Die atemlos spannende Schlussszene ist in NOTORIOUS wahrlich das krönende Highlight, gibt alle Antworten und lässt doch so viel offen. Hitchcock at his best!
Maßgeblich beteiligt am Gelingen sind hier auch die drei Hauptdarsteller, die allesamt auf höchstem Niveau spielen. Vor allem Ingrid Bergman glänzt erneut und bekommt mit der leichtlebigen, aber charakterstarken Alicia eine Paraderolle. Cary Grant und Claude Rains treffen ihre ambivalenten Figuren ebenfalls auf den Punkt.
Besonders erwähnenswert erscheint mir noch die Arbeit von Kameramann Ted Tetzlaff, die dem Film seinen ausgewogenen Fluss verleiht und dabei immer wieder Akzente setzt, die ins Auge stechen. Etwa die torkelnde Sichtweise als Alicia verkatert erwacht oder den bis dato längsten Kamera-Zoom. Ganz zu schweigen von der perfekten Komposition im Finale.

Vielfach unterschätzt oder vergessen im Schatten späterer Meisterwerke, stellt NOTORIOUS wahrscheinlich eine der wichtigsten und gelungensten Arbeiten Alfred Hitchcocks dar. Ein im besten Sinne des Wortes einfacher Film, der seinen Fokus nie verliert und keine Sekunde langweilt. Hier war ein Meister am Werk, das merkt man ab der ersten Einstellung.
Auf das Wiedersehen am Zuckerhut freue ich mich jetzt schon.

9/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Do 4. Jul 2019, 22:50

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THE TROUBLE WITH HARRY (1955)

Natürlich war Paramount Pictures nicht übermäßig begeistert, als Alfred Hitchcock eine makabre und eher kleinformatige Komödie als sein neuestes Projekt vorstellte. Doch mit REAR WINDOW und zuletzt TO CATCH A THIEF hatte das Studio große Erfolge verbucht, also genehmigte man das schmale Budget von 1 Mio. US-Dollar und vertraute auf Hitchcocks Gespür für gute Geschichten.
 
Die Finanzierung stand, doch die Probleme mit Harry rissen auch während der Dreharbeiten in Vermont nicht ab. 
Vorort gelangen nur noch einige Außenaufnahmen des prächtigen neuenglischen Indian Summers, bevor ein heftiger Sturm sämtliches Laub von den Bäumen wehte und starker Regen die warme, frühherbstliche Atmosphäre hinweg schwemmte. Improvisieren war angesagt, und so sammelte man das goldgelbe Laub kistenweise zusammen und schaffte es nach Hollywood, wo später ein Set im Studio nachgebaut wurde. Das originale Blattwerk befestigte man in aufwändiger Detailarbeit an künstlichen Ästen und sorgte somit für ein einigermaßen authentisches Indoor-Vermont. 
Doch in New England gingen die Probleme erstmal weiter. Sei es eine abstürzende Kran-Kamera, die Hitchcock an der Schulter streifte und ein weiteres Crew-Mitglied verletzte oder der weiterhin anhaltende Dauerregen. Dieser prasselte derart heftig aufs Dach der Turnhalle, in der einige Szenen gedreht wurden, dass der Ton unbrauchbar wurde. Sämtliche Dialoge mussten später erneut eingesprochen und aufgenommen werden.

Als THE TROUBLE WITH HARRY schließlich in den US-Kinos lief, war ihm nur bescheidener Erfolg vergönnt. Der unerwartet schwarzhumorige Film ließ das Publikum ratlos zurück. Wo war die Suspense, wo der Krimi-Plot? Obwohl die Handlung sich um eine mysteriöse Leiche dreht, deren Fund ein kleines Dorf in helle Aufregung versetzt, bleiben die üblichen Hitchcock-Ingredienzen weitgehend unterentwickelt. Statt den Zuschauer mit Thrill zu fesseln, setzt der Film auf geschliffene Dialoge, gerne doppeldeutig, gesprochen von einem grotesk überzeichnetem Figuren-Arsenal. In meinen Augen ein Volltreffer! Das Ensemble rund um John Forsythe, Edmund Gwenn und Shirley MacLaine (in ihrer ersten Filmrolle) spielt enorm sympathisch und meistert die Gratwanderung am Rande zur Karikatur bravourös.
Warum also der Flop beim Publikum?
Hauptdarsteller John Forsythe brachte es Jahre später auf den Punkt:
„Digging up a dead body and pulling it around, taking it different places, is not considered funny, except by the British and some of the Europeans. But in the United States, death is not considered funny.“
Vermutlich aus diesem Grund lief Hitchcocks britischster US-Film in Europa auch deutlich erfolgreicher, vor allem in England und Frankreich, wo er bis zu eineinhalb Jahre regulär auf der Leinwand zu sehen war.

Die idyllische New-England-Atmosphäre, die wunderschöne, herbstlich bunte Farbpalette und die stets mitschwingende Unernsthaftigkeit würde ich zuerst nennen, wenn es um die Gründe geht, warum mir THE TROUBLE WITH HARRY so gut gefiel, wie er es überraschenderweise tat.
Im Vorfeld hatte ich nämlich eigentlich wenig erwartet vom komödiantischem Ausreißer in Hitchcocks Filmographie. Schon gar nicht, dass mich ein Film aus den Fünfzigern mit seinem Dialog-Witz begeistert.
Aber auch die eigentliche Geschichte, die sich um Lügen, Wahrheit und deren jeweilige Konsequenzen dreht, ist gut und bietet einige amüsante Wendungen. Am Ende macht es sich der Film dann etwas sehr leicht um zu einem einigermaßen runden Schluss zu kommen. Aber auch das passt ins Konzept und sorgt für ein letztes, zufriedenes Grinsen.

8/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Fr 19. Jul 2019, 13:23

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THE LODGER - A STORY OF THE LONDON FOG (1927)

„Die Stummfilme waren die reinste Form des Kinos.“ Alfred Hitchcock

Das ist er also, der erste Film bei dem der 27jährige Regie-Neuling schalten und walten konnte, wie er es für wichtig und richtig hielt, quasi der Hitchcock-Urknall. Hier erprobte und etablierte er erstmals seinen unverkennbaren visuellen Stil.
Dafür hat er eine düstere Geschichte gewählt, rund um Eifersucht, Misstrauen und Besessenheit. Auch das ewige Hitchcock-Thema vom unschuldig Verfolgten wird erstmals aufgegriffen. Das Drehbuch war die Adaption einer populären Novelle von Marie Belloc Lowndes aus dem Jahr 1913.

Im Mittelpunkt steht ein mysteriöser Fremder (Ivor Novello), der eines dunklen Abends die Herberge der Familie Bunting aufsucht, um ein Zimmer zu mieten. Zu der Zeit versetzt eine schreckliche Mordserie London in Angst und Schrecken. Ein Killer, der sich ‚The Avenger‘ nennt, hat es auf blonde, junge Damen abgesehen. Er ist vermummt mit einem Cape und trägt einen schwarzen Koffer bei sich. Als sich der fremde Mieter und die blonde Tochter des Hauses näher kommen, keimt ein schrecklicher Verdacht im Hause Bunting.

In der ersten Viertelstunde wird die Ausgangssituation des Plots mittels einer Montage erzählt, die dem Zuschauer alle bedeutsamen Informationen zeigt. Beginnend mit dem bildschirmfüllenden Gesicht einer schreienden, blonden Frau, über den Fund ihrer Leiche, bis hin zur medialen Verbreitung und der Reaktion der Bevölkerung auf die neueste Schreckensnachricht, nutzt Hitchcock die Möglichkeiten des Stummfilms voll aus und verzichtet dabei weitestgehend auf Texttafeln. Die Eröffnungsszene ist in ihrer visuellen Form beeindruckend kreativ und effektiv. Unverkennbar ist hier bereits Hitchcocks Faszination daran, mit technischen Tricks zu arbeiten und so das Publikum zu verblüffen und nebenbei die Grenzen des Möglichen immer weiter zu verschieben.
Beispielhaft dafür ist die Szene, in der Ivor Novello von unten durch eine dicke Glasscheibe gefilmt wird, während er in seinem Raum auf und ab schreitet. Zusätzlich zum wackelnden Lampenschirm wurden so die schweren Schritte sichtbar gemacht, die die Familie Bunting aus dem Raum darunter nur hört.
Auch bei Ausleuchtung der Bilder und diversen Schattenspielen beweist Hitch hier schon früh seinen visuellen Erfindungsgeist. Es entsteht eine unbehagliche, teils alptraumhafte, Atmosphäre, die die simple Geschichte verschmerzen und keine Längen aufkommen lässt.

Ich hatte bisher keine Erfahrung mit dem Stummfilm. Gar keine. Und auch kein großes Bedürfnis, die Filme zu sehen und mich damit zu beschäftigen. Das Fehlen von Dialog und Geräuschen oder auch das theatralische Schauspiel sorg(t)en bei mir für eine Hemmschwelle.
Ein weiteres Problem ist für mich, darüber zu schreiben, ohne zumindest rudimentäres Wissen über den Stummfilm. Mir fehlt einfach der Background. Ich kenne METROPOLIS und noch ein, zwei Klassiker. Dass der deutsche Expressionismus den frühen Hitchcock beeinflusst hat, habe ich gelesen, kann das aber nur schwer beurteilen oder einstufen. Obwohl, beim ersten Erscheinen des Lodgers musste sogar ich an NOSFERATU denken.
Mal sehen, in wie weit ich mich noch tiefergehend mit dieser Filmepoche beschäftige, aber diese Begegnung mit dem Stummfilm war insgesamt eine positive und interessante Erfahrung.

7/10

PS: Ich habe die restaurierte Fassung von 2012 gesehen, welche einen komplett neuen Score von Nitin Sawhney hat. Ich kann nichts zu den Unterschieden zum Original sagen, aber die orchestrale Musik fand ich gut und stimmig.
Allerdings wurden auch 3 Stücke mit Vocals in den Film integriert, die auf mich wie Fremdkörper wirkten. Als modernes Element gedacht, rissen sie mich eher kurzzeitig aus der Geschichte raus.
Wobei mir „Daisy`s Song“, losgelöst vom Film, außerordentlich gut gefällt.


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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Sa 21. Sep 2019, 09:31

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THE PARADINE CASE (1947)


Die Zusammenarbeit zwischen dem britischen Meisterregisseur Hitchcock und dem US-amerikanischen Produzenten David O. Selznick (GONE WITH THE WIND) war stets von Spannungen und Machtkämpfen geprägt. Hitch sah sich von Anfang an als kreatives Epizentrum seiner Filme und war es gewohnt sämtliche Entscheidungen alleinverantwortlich zu treffen. Vom Script bis zur Drehort-Wahl. Das Studiosystem Hollywoods, das ihm Produzenten mit enormen Mitspracherecht, wie eben Selznick, aufzwang, war ihm ein Gräuel. Doch trotz andauernder Streitigkeiten schafften es die beiden Alpha-Tiere mit ihren ersten beiden Kollaborationen REBECCA (1940) und SPELLBOUND (1945) sehr erfolgreiche Filme auf die Leinwand zu bringen.

Anders lief es bei ihrem dritten und letzten gemeinsamen Film, dem Justizdrama THE PARADINE CASE aus dem Jahr 1947. Hier übernahm Selznick das Verfassen der Drehbuch-Endfassung und lieferte die fertigen Szenen häppchenweise am Set ab, allerdings erst kurz bevor sie jeweils gedreht werden sollten. Für Hitchcock eine unmögliche Arbeitsweise, die seine Motivation deutlich gedrosselt haben dürfte. Gegenseite Vorwürfe und eine vom Studio bestimmte Darstellerriege, mit der der Regisseur überhaupt nicht glücklich war, waren weitere Faktoren, die schlussendlich zum endgültigen Bruch führten.

Und wie ist der Film geworden, der aus diesen Querelen heraus entstanden ist? Nicht besonders gut leider.

Die hübsche Mrs. Paradine (Alida Valli) wird verhaftet und angeklagt ihren blinden Ehemann ermordet zu haben. Rechtsanwalt Anthony Keane (Gregory Peck) übernimmt die Verteidigung und entwickelt rasch eine ungesunde Obsession für seine mysteriöse Mandantin. Besessen davon den wahren Mörder zu finden und Mrs. Paradines Unschuld zu beweisen, setzt Keane sowohl seine Karriere als auch seine Ehe aufs Spiel.

Ein großes Problem des Films scheint für mich die Unentschlossenheit, was dem Publikum hier geboten werden soll. Thriller? Justizkrimi? Melodrama? Es wird von allem ein bisschen was mit in den Topf geworfen, doch final fehlt das Salz in der Suppe. Es wird weitestgehend auf Suspense-Szenen verzichtet, das Rätsel um den Mord bleibt seltsam unterentwickelt und für ein packendes Beziehungsdrama fehlt es den Charakteren an Tiefe.

Die emotionale Bindung, die Gregory Peck zu der unnahbaren und wenig sympathischen Alida Valli empfindet, bleibt für den Zuschauer nicht nachvollziehbar und ist daher ein wenig glaubwürdiger Antrieb für den Plot. Auch weitere Ungereimtheiten, die die Beziehungen zwischen den Figuren betreffen, sorgen für Distanz und in der Folge für Langeweile. Das halbgare Mordkomplott, die Ehekrise der Keanes, die seltsame Verhaltensweise Mrs. Paradines - die Auflösung des ganzen Wirrwarrs schien Hitch selbst nicht mehr sonderlich zu interessieren.

Erst in der zweiten Hälfte, wenn sich das Geschehen in den Gerichtssaal verlagert und der Prozess beginnt, kann der Film Pluspunkte sammeln. Es scheint, als habe Hitchcock in diesen Szenen seine Motivation für das Projekt wieder entdeckt. Die Inszenierung tritt mehr in den Vordergrund und besticht mit einigen raffinierten Einstellungen. Zum Zungeschnalzen ist die Szene, als der ehemalige Diener des Mordopfers (zwielichtig: Louis Jourdan) den Saal betritt und vorbei an der Anklagebank zum Zeugenstand geführt wird. Währenddessen stets im Vordergrund zu sehen: Mrs. Paradine, die jegliche Regung mit aller Gewalt zu unterdrücken versucht.
Während des Verhörs steigert sich zunehmend die Spannung und es kommt zu dramatischen Wendungen, die die ursprüngliche Schuldfrage in den Hintergrund drängten. Am Ende haben alle Beteiligten verloren.
Charles Laughton glänzt in diesen Sequenzen als schmieriger Richter, der die Angeklagte nur zu gern zum Tode verurteilen würde. An Gregory Peck kann ich leider, wie schon in SPELLBOUND, wenig Gutes finden. Sein fahriges Schauspiel überzeugt mich erneut nicht und als britischer Rechtsanwalt ist er schlicht und ergreifend eine Fehlbesetzung.

THE PARADINE CASE rettet sich in seiner zweiten Hälfte noch knapp ins Mittelfeld, bleibt aber unterm Strich eine enttäuschende Angelegenheit. Die turbulenten Begleitumstände während der Entstehung des Films, sind dem Endresultat leider deutlich anzumerken.

5/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Sa 23. Nov 2019, 21:50

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JAMAICA INN (1939)

Zum Ende seiner britischen Schaffensphase, schon auf dem Sprung nach Hollywood, wagte Alfred Hitchcock noch mal einen Ausflug in Richtung Abenteuer- und Kostümfilm. Ungewohntes Terrain für den Thriller- und Krimi-Spezialisten. Aber Hitch wird das Schiff schon schaukeln, oder?
Diesmal nicht.
Nach einem vielversprechendem Einstieg säuft die Spannung leider ziemlich schnell ab und der Film entwickelt sich zur langatmigen und ermüdenden Solo-Show von Charles Laughton. Der ist hier sowohl Produzent als auch Bösewicht und hatte wohl schon in der Drehbuchphase seiner Rolle zu mehr Präsenz verholfen. So erzählt es jedenfalls Hitchcock, der ihm wenig Verständnis fürs Kino nachsagte. Vor der Kamera nervt die theatralische Darstellung Laughtons mitunter deutlich und bringt eine unnötige Albernheit in die Geschichte.

Anfang des 19. Jahrhunderts treiben skrupellose Piraten ihr Unwesen an der schroffen Küste Cornwalls.
In stürmischen Nächten lotsen sie vorbeifahrende Schiffe direkt gegen die Felsen in ihren Untergang, töten die Besatzung und erbeuten die Fracht. Die heruntergekommene Spelunke Jamaica Inn dient der Bande als Unterschlupf und der schmierige Richter und Lehnsherr Pengallan (Charles Laughton) hält schützend die Hand über das Treiben. Eines Nachts klopft die irische Waise Mary (Maureen O’Hara) an die Pforte der Räuberhöhle. Auf der Suche nach ihrer Tante löst sie ungewollt diverse Enthüllungen aus, die das Jamaica Inn auf den Kopf stellen.

Es dümpelt so dahin. Alle Geheimnisse der Figuren sind bald aufgedeckt und der Film streckt sich, mangels richtiger Handlung, dialoglastig und ereignisarm in die Länge. Vor allem die Information ans Publikum, dass Laughtons Richter das geheime Oberhaupt der Riff-Piraten ist, killt das wichtigste Spannungsmittel völlig ohne Not und viel zu früh. Für Laughton bedeutete dieser Kniff natürlich mehr Screen-Time. Er schafft es auch tatsächlich mit seiner übertrieben affektierten Darbietung das einzig memorable Element des Films zu bleiben. In diesem Fall leider kein Gütesiegel.

JAMAICA INN ist ein kurios schwacher Eintrag in Hitchcocks Filmographie, dem die markante Handschrift seines Regisseurs komplett fehlt. Bereits zu seiner Entstehungszeit hoffnungslos aus der Zeit gefallen, uninspiriert und dramaturgisch misslungen. Allenfalls der atmosphärische Beginn und die schönen Studiokulissen können überzeugen - der Rest ist ein Schlag ins Wasser.

3/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Do 12. Dez 2019, 21:01

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THE BIRDS (1963)


Auf dem Höhepunkt seiner Karriere erschuf Alfred Hitchcock ein Werk, dessen brillante Bildsprache und Dramaturgie bis heute das Kino prägt. Unter dem Druck einen würdigen Nachfolger zu seinem Horror-Meilenstein PSYCHO abzuliefern, begab sich Hitch erneut in abseitige Genre-Gefilde und verfilmte eine Kurzgeschichte über den urplötzlich ausbrechenden Krieg der ansässigen Vögel gegen die Menschen in einem verschlafenen Küstenort.

Das Tierhorror-Motiv, aus heutiger Sicht banal, damals unerforschtes Neuland im Mainstream-Kino, wirft lange Zeit nur vage Schatten voraus und lauert im Hintergrund, während Hitchcock seine Figuren ausführlich vorstellt und ihnen Tiefe verleiht. Ihm ist jederzeit bewusst, dass das Publikum nur darauf wartet, bis der titelgebende Schrecken losbricht - und genau deshalb lässt er es in der ersten Hälfte zappeln. Erst nach gut 50 Minuten, nachdem alle wichtigen Charakter-Dramen etabliert wurden, kommt die erste Attacke der Vögel. Bis dahin hat der leichtfüssige Komödien-Stil, sowie das sich anbahnende Beziehungsdrama zwischen den Hauptfiguren, für soviel Erdung gesorgt, dass der Schwenk zum phantastischen Horror für einen enormen Schockeffekt sorgt. Der Angriff Dutzender Möwen auf eine Kindergeburtstagsparty kommt aus heiterem Himmel und erwischt auch den Zuschauer eiskalt. Mit dieser ersten Eskalation wird die zweite Filmhälfte eingeläutet, in deren Verlauf sich Ausmaße und Intensität der Angriffe zunächst immer weiter steigern, bevor es final zum intimen Showdown zwischen den Protagonisten und den Vögeln kommt. Dabei gelingen Hitchcock unvergesslichen Szenen, wie das explosive Inferno im Ort aus der Vogelperspektive, Tippi Hedren, die rauchend vor der Schule wartet, während sich im Hintergrund Raben auf einem Klettergerüst sammeln oder den berühmten, dreifachen Jump-Cut auf eine Leiche mit ausgepickten Augäpfeln.

Was ist der Auslöser für die gefiederten Attacken?
Mit ein paar halbseidenen Interpretationsansätzen, vielen metaphorischen Hinweisen und einem offenen Ende überlässt es der Film dem Zuschauer, das Geschehen einzuordnen und mit tieferer Bedeutung aufzuladen. Und es gibt wahrlich viele Möglichkeiten, die Ereignisse zu deuten. Mir gefällt der Gedanke, dass es einen direkten Bezug zwischen der externen Bedrohung durch die Vögel und Tippi Hedrens Suche nach einer liebevollen Mutter-Figur gibt. Die unvergesslich Schlussszene passt da für mich perfekt ins Bild.

Einen deutlichen Verweis auf PSYCHO gibt es kurz zuvor, wenn Hitchcock den Aufbau und die Ausführung der Duschmord-Szene für die finale Konfrontation kopiert. Wieder gibt es viele Schnitte, Blut und eine kreischende Hauptdarstellerin, deren Qual diesmal aber nur teilweise gespielt war. Tippi Hedren musste sich auf Anweisung Hitchcocks tagelang mit Vögeln bewerfen und picken lassen. Mitunter waren diese sogar mit Nylonschnüren an ihrer Kleidung festgebunden und fügten der jungen Schauspielerin erhebliche Verletzungen zu. (In „The Dark Side of Genius“, der Hitch-Biographie von Donald Spoto, wird das ungesunde Verhältnis des Regisseurs zu seiner Hauptdarstellerin näher beleuchtet.)

THE BIRDS zu sehen ist immer wieder ein beeindruckendes Vergnügen. Die vielen großen und kleinen Momente in denen die Magie des Kinos zelebriert wird, die perfekte Dramaturgie, die technische Raffinesse - das alles sorgt auch bei der x-ten Sichtung für Begeisterung.

10/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Sa 14. Dez 2019, 16:45

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MARNIE (1964)

Ma·nie
/Manié/
Substantiv, feminin
[die]
Besessenheit, Zwang, sich in bestimmter Weise zu verhalten; krankhafte Sucht
 
Marnie Edgar (Tippi Hedren) ist eine notorische Lügnerin und Kleptomanin. Ihrem Trieb zu klauen geht sie hochprofessionell und skrupellos nach. Mit gefälschten Papieren und unter Zuhilfenahme ihrer attraktiven Erscheinung erschwindelt sie sich immer neue Jobs, mit dem Ziel ihre wohlhabenden Vorgesetzten finanziell zu erleichtern. Nachdem sie ihr Vorhaben erfolgreich in die Tat umgesetzt hat, entschwindet sie mit der Beute, verwischt ihre Spuren und wechselt Stadt und Identität. 
Erst als sie in der Verlagsfirma von Mark Rutland (Sean Connery) anheuert, gerät Marnies Strategie ins Schlingern. Durch eine zufällige Begegnung in der Vergangenheit, weiß Mark, dass es der blonden Schönheit nur vordergründig um die Stelle als Sekretärin geht. Er stellt sie trotzdem ein, beginnt sogar eine Affäre mit ihr und reizt seine Machtposition ihr gegenüber bis aufs Äußerste aus. 
 
So schwer wie MARNIE hat es mir bisher noch kein Hitchcock gemacht. 
Wie schon in einigen vorhergehenden Werken stellt Hitch die psychische Verfassung seiner Hauptfiguren in den Vordergrund und setzt die Aufarbeitung eines Traumas aus der Vergangenheit als zentrales Mysterium ein. Das anfängliche Gaunerstück dient lediglich als Aufhänger, der bald Platz machen muss für ein waschechtes Charakter-Drama. Es entwickelt sich ein äußerst ambitionierter, phasenweise auch überladener Film, mit einer Vielzahl reizvoller Ansätze.
Gebündelt in der Beziehung zwischen Tippi Hedren und Sean Connery, die durch krankhafte Fixierung und Abhängigkeit geprägt ist, werden Themen wie Verdrängung, sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch behandelt. Das ist harter Stoff. In seiner filmischen Umsetzung teilweise schonungslos intensiv und schockierend, öfter mal aber auch etwas platt und zu melodramatisch. Wenn Sean Connery im konfrontativen Analyse-Gespräch ganz tief in die Küchenpsychologie-Kiste greift um seine Frau aus der Reserve zu locken, kann man schon mal die Augen verdrehen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass er sie zuvor zur Zwangs-Ehe genötigt und während der Hochzeitsreise vergewaltigt hat. Das kann ich für mich nicht mehr unter ambivalenter Figurenzeichnung einordnen, wie auch manch andere fragwürdige Handlungsweisen.
Trotzdem übt der Strudel der gegenseitigen Abhängigkeit, in dem sich Marnie und Mark befinden, eine Faszination aus, die über manch Länge im Mittelteil hinweg hilft. Die üppige Laufzeit von 130 Minuten ist fordernd und nervenzerrend, aber auch essentiell um den Leidensweg Marnies spürbar zu machen. Ob man sich darauf einlassen kann und will, muss jeder selbst für sich herausfinden. Ich tat mich schwer.
 
Leider erweist sich Tippi Hedrens Schauspiel, wie schon in THE BIRDS, als sehr limitiert und vor allem in dramatischen Szenen ist sie deutlich überfordert. Das angespannte Verhältnis zu Hitchcock, der ursprünglich Grace Kelly für die Hauptrolle vorgesehen hatte, hat ihr die Arbeit am Set zusätzlich erschwert.
Sean Connery hingegen, der kurz zuvor den ersten 007-Film abgedreht hatte, besticht durch sein animalisches Charisma, hat aber Mühe seine komplexe und undurchsichtige Figur plausibel darzustellen. Ein Charakterdarsteller sollte er auch im weiteren Verlauf seiner großen Karriere nicht mehr werden.

Die Regie von Alfred Hitchcock ist zurückhaltend, um nicht zu sagen unspektakulär. Man merkt, dass er im Verlauf der Dreharbeiten das Interesse an dem Projekt verloren hatte und den Film nur schnellstmöglich fertigstellen wollte.
(In „The Dark Side of Genius“, der Hitch-Biographie von Donald Spoto, wird der Eklat, der sich hinter den Kulissen zwischen dem Regisseur und seiner Hauptdarstellerin ereignete, näher beleuchtet.)
Natürlich darf man sich aber auch hier über manch starken Hitchcock-Moment freuen. Zum Beispiel sticht eine Szene heraus, in der Marnie gerade den Safe plündert, während in der gleichen Einstellung nebenan eine Putzfrau den Boden wischt, nur getrennt durch eine Wand.
Im direkten Vergleich mit den vorangegangenen Meisterwerken bietet MARNIE aber nur wenige memorable Aufnahmen und auch mit Suspense-Szenen wird gegeizt.
Damals ein Misserfolg, im Laufe der Jahre aber durchaus auch mit vielen positiven Stimmen bedacht, bleibt MARNIE ein kurioses aber faszinierendes Einzelstück in Hitchcocks Filmographie. Gut vorstellbar, dass mir der Film seine wahren Qualitäten erst bei der nächsten Sichtung offenbart.

5/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Do 16. Jan 2020, 00:00

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REBECCA (1940)


Ausgestattet mit üppigem Hollywood-Budget aus der Tasche des Produzenten David O. Selznick drehte Alfred Hitchcock im Herbst 1939 zum ersten Mal auf amerikanischem Boden. Im sonnigen Kalifornien erschuf er einen durch und durch britischen Film. Einen düsteren Psycho-Thriller voller Geheimnisse und schräger Figuren - ein Schauermärchen vor unheilvoller Kulisse. Obendrein ist REBECCA aber auch ein astreines Melodram geworden, das von der Odyssee seiner namenlosen Protagonistin (Joan Fontaine) auf der Suche nach Liebe und Anerkennung erzählt.
Ihre Reise in die vermeintliche Eigenständigkeit beginnt in Monte Carlo, wohin sie eine betuchte Dame als privates Dienstmädchen begleitet und schon bald den glamourösem Maxim de Winter (Laurence Olivier) kennen lernt. Die Blitzromanze zwischen der jungen Frau und dem verwitweten Aristokraten führt zügig zu einer glanzlosen Hochzeit und schließlich der Rückkehr des Paares nach England auf den Landsitz der Adelsfamilie. 
‚Manderley‘ - faszinierend schön wie ein verwunschenes Schloss und gleichzeitig einschüchternd durch seine schiere Größe und der isolierten Lage inmitten tiefer Wälder an der schroffen Felsküste Cornwalls. Hier liegen dunkle Geheimnisse begraben. Das wird dem Zuschauer und auch der frischgebackenen Mrs. de Winter schon bald klar. Denn die erste Ehefrau des Hausherrn, Rebecca, ist zwar seit einem tödlichem Segelunfall tot und begraben, doch in den Fluren und Räumlichkeiten von ‚Manderley‘ scheint sie allgegenwärtig. Ihre Initialen prangen auf Servietten und Briefpapieren und ihre einstige Zofe Mrs. Danvers (Judith Anderson) hütet ihre unangetasteten Privatgemächer wie einen geliebten Schatz. Außerdem macht sie mit perfiden Feindseligkeiten der neuen Mrs. de Winter das Leben auf ‚Manderley‘ zur Qual.
Als dann auch noch das Segelboot, mit dem Rebecca de Winter im Jahr zuvor verunglückte, am Meeresgrund der nahgelegenen Bucht gefunden wird, überschlagen sich die Plot-Wendungen und im letzten Drittel nimmt der mysteriöse Thriller überraschend noch die Abzweigung Richtung Kriminal-Story.
Leider musste man das ursprüngliche Ende des Romans entsprechend dem ‚Motion Picture Production Code‘ abwandeln, um nicht gegen die damals vorherrschenden moralischen Grundsätze für Filmproduktionen zu verstoßen. Den Mörder, der ungestraft davon kommt, durfte es im Kino nicht geben. Das ist extrem schade, da die verwendete Alternativ-Lösung nicht recht zum Verlauf der Geschichte und zur Darstellung einer bestimmten Figur passen mag.
Der Regisseur selbst sah REBECCA im Nachhinein kritisch und meinte es handle sich um keinen typischen Hitchcock-Film. Zu märchenhaft und altmodisch sei die Story, und es fehlte eindeutig der Humor.  

Ob nun typisch oder nicht, der Film ist über weite Strecken absolut großartig! 
Das beginnt mit der genialen Kamerafahrt in der einleitenden Traumsequenz und endet mit dem gewaltigen Flammen-Inferno, das den Schrecken der Heldin ein Ende setzt. Dazwischen schafft es Hitchcock, eine tieftraurige Geschichte über das Erwachsenwerden einer unsicheren jungen Frau zu erzählen, die sich leichtsinnig in eine ungesunde (aus heutiger Sicht schon fast missbräuchliche) Ehe stürzt und an den Dämonen ihres neuen Lebens beinahe zu Grunde geht. 
Der Grusel-Einschlag, der sich vor allem optisch bemerkbar macht, gibt dem Drama genau die richtige Würze und kompensiert das Fehlen klassischer Suspense-Szenen. Dabei ist die Atmosphäre so einnehmend, dass der ein oder andere Stolperstein in der Handlung zur unwichtigen Nebensächlichkeit wird. Auch den schwierigen Spagat über mehrere Genres hinweg meistert der Film ohne sich dabei tiefere Schrammen zu holen. Vielleicht hätte man die ein oder andere erklärende Dialogszene im letzten Drittel straffen können. Die Laufzeit von 130 Minuten ist durchaus üppig.

Großen Anteil am Gelingen des Films hat auch der gut gewählte Cast. Joan Fontaine spielt die Unschuld vom Lande perfekt und ist eine wahre Augenweide. Neben ihr brilliert vor allem Judith Anderson mit einer eiskalten Performance als dämonische Hüterin des Anwesens.

REBECCA ist vielleicht kein typischer, aber ein sehr, sehr guter Hitchcock-Film, dessen düstere Reize nichts von ihrer Faszination verloren haben. 

Der Film wurde bei den Oscars 1941 in elf Kategorien nominiert und gewann schlussendlich die Preise für den besten Film und die beste Kamera. Hitchcock, der für die beste Regie nominiert war, ging leer aus und sollte auch im weiteren Verlauf seiner Karriere nicht in dieser Kategorie ausgezeichnet werden.

8/10

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