Blaupause schaut Hitchcock

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Mi 29. Jan 2020, 22:44

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STAGE FRIGHT (1950)


Die 50er-Jahre bedeuteten für Alfred Hitchcock den finalen Aufstieg an die Spitze des amerikanischen Hochglanz-Unterhaltungskinos. Viele seiner größten und einflussreichsten Filme entstanden in diesem Jahrzehnt und bescherten ihm Erfolge in Serie. Mit Werken wie REAR WINDOW (1954) oder THE MAN WHO KNEW TO MUCH (1956) begeisterte er Publikum und Kritik gleichermaßen und zementierte seinen Ruf als Meisterregisseur und Visionär.
 
Doch am Anfang dieser glanzvollen Dekade steht der eher unscheinbare STAGE FRIGHT - ein doppelbödiger Kriminalfilm im Londoner Theater-Milieu, der sich klassischer Motive und Erzählweisen bedient, um diese im Verlauf der Handlung gründlich auf den Kopf zu stellen. Hitchcock suchte immer nach neuen dramaturgischen Methoden, sein Publikum zu überraschen und den Spürnasen im Kinosaal einen Schritt voraus zu sein. Die Auflösung des Plots, das Lüften des Geheimnisses einer Geschichte, war ihm heilig. Also beschloss er die Lösung des Rätsels in STAGE FRIGHT mit einem radikalen Schritt zu verschleiern: Er belog den Zuschauer.
Zwar war das Stilmittel des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ auch im Kino der 50er kein absolutes Neuland mehr, aber eine Rückblende aus Sicht des vermeintlichen Protagonisten zu zeigen, die sich später als komplett falsch und erlogen erweist, das gab es bis dato nicht. 
Freilich hagelte es dafür damals reichlich Kritik und auch Hitch selbst empfand den ‚false flashback‘ später als großen Fehler und Verrat am Publikum. Wie so häufig sollte man ihn aber bei seiner überkritischen Sicht der Dinge nicht zu ernst nehmen, denn was damals ein Unding war, etablierte sich im Lauf der Jahre und ebnete den Weg für einige der großartigsten Twists der Filmgeschichte (z.B. THE USUAL SUSPECTS).
 
Trotz dieses Kniffs muss man aber ehrlicherweise sagen, dass das Rätsel um den Mord in STAGE FRIGHT kein sonderlich komplexes ist. In Ansätzen wird mit Elementen des klassischen Whodunit-Krimis gespielt, aber Hitchcock hatte an dieser Art des Mörder-Ratens nie großes Interesse. Sein Thema war immer die Emotion, nicht die Logik. Daher taugt der feige Jonathan Cooper (Richard Todd) von Anfang an nicht zum unschuldig verfolgten Helden und der Kreis der Verdächtigen, die für die Tat in Frage kommen, ist so klein, dass man den Mörder auch ohne ausgeprägte Kombinationsgabe bereits früh erahnt. Außer natürlich, man glaubt alles was man sieht.
 
Da der Film in der Theater-Szene spielt, werden die Themen Täuschung und Schauspielerei in STAGE FRIGHT mehrmals aufgegriffen und sind sogar hauptverantwortlich, Spannung zu erzeugen. Figuren müssen sich als jemand Anderes ausgeben, um z.B. Beweise zu sichern, und es kommt gleich zu mehreren Suspense-Szenen in denen es einzig um die Aufrechterhaltung der Tarnung geht. Die eigene Identität hinter einer Fassade zu verstecken und diese zu bewahren ist der Schlüssel um seine Ziele zu erreichen. Einerseits wird hier unverhohlen Kritik an der Oberflächlichkeit des Milieus geübt, andererseits aber auch geschickt kaschiert, dass im Grunde genommen zu keinem Zeitpunkt der Handlung ernsthafte Gefahr für die Protagonisten besteht.
 
Der Nervenkitzel bleibt also für Hitchcock-Verhältnisse eher moderat und gibt die Bühne frei für viel charmanten Dialogwitz, Situationskomik und einer Prise Romantik. Nicht die schlechteste Entscheidung, denn hier kann die bestens aufgelegte Besetzung glänzen. Die komödienerfahrene Jane Wyman in der Hauptrolle schnappt sich mit einem Augenaufschlag die Sympathien des Publikums und gibt den idealen Konterpart zu Marlene Dietrichs eiskalter Femme fatale.
In einer größeren Nebenrolle sorgt der Schotte Alastair Sim für augenzwinkernden Charisma und trockenen Humor.
 
Also, Vorhang auf und Bühne frei für dieses filmische Täuschungsmanöver. Elegant und vielschichtig. Nicht ohne Makel aber durch und durch sympathisch.
 
7/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Mi 1. Apr 2020, 14:33

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STRANGERS ON A TRAIN (1951)

Es beginnt mit zwei Männern, die an der Union Station in DC aus ihren Taxis steigen.
Ihre Gesichter werden dem Zuschauer vorenthalten, die Kamera folgt allein ihren beiden Schuhpaaren. Eines auffällig extravagant, das Zweite dezent und eher konservativ. Sie eilen hastigen Schrittes zum wartenden Zug am Bahnsteig. Die Perspektive der Bilder lässt kurz den Eindruck entstehen, die beiden Männer würden aufeinander zu schreiten, doch sie haben das gleiche Ziel.
Der Zug rollt an und die nächste Einstellung fängt Schienen ein, die sich überschneiden und dann in unterschiedliche Richtungen auftrennen. Als sich die beiden Schuhpaare im fahrenden Zug versehentlich berühren, verlässt die Kamera den bodennahen Blickwinkel und zeigt uns die beiden Männer, um die sich die folgende Geschichte drehen wird. Die beiden Männer, das sind Guy Haines (Farley Granger) und Bruno Anthony (Robert Walker), zwei Fremde, die auf dieser gemeinsamen Zugfahrt scheinbar zufällig ins Gespräch kommen. Bruno, leicht aufdringlich aber charmant, weiß so einiges über sein Gegenüber, und lenkt die Unterhaltung zügig weg vom Small Talk zu privateren Details. Guy hingegen bleibt höflich reserviert und versucht Distanz zu wahren, doch seine Irritation über den seltsamen Reisebegleiter ist nicht zu übersehen.
Nach einem Drink und etwas Hin-und Her erläutert Bruno seine Idee von einem perfekten Verbrechen. Einem ‚crisscrossed crime‘, wie er es bezeichnet. Zwei völlig Fremde, die keinerlei Verbindungen zueinander haben, verabreden den Mord auszuführen, den der jeweils andere gerne begehen würde. Es soll aussehen wie eine völlig willkürliche Tat, keinerlei Motiv. Sollte einer der beiden Verschwörer verdächtigt werden, könnte er ein wasserdichtes Alibi nachweisen und der wahre Mörder würde nie gefasst.
Der zweite Fremde in diesem Komplott wäre neben Bruno natürlich Guy Haines, erfolgreicher Tennis-Profi, und auf bestem Wege die Tochter eines Senators zu heiraten. Nur die habgierige Ex Miriam, die nicht in die Scheidung einwilligen will, steht dem neuen Glück noch im Weg. Brunos Vorschlag: Er löst das Miriam-Problem, wenn Guy im Gegenzug seinen herrischen Vater beseitigt.
Guy lehnt natürlich entrüstet ab und flüchtet bei der nächsten Haltestelle aus dem Zug. Dabei begeht er zwei Fehler: er lässt sein geprägtes Feuerzeug liegen und er unterschätzt Bruno Anthonys mörderische Entschlossenheit.

In unnachahmlicher Manier eröffnet Alfred Hitchcock seinen Film mit einer technisch, wie formal perfekt arrangierten Sequenz. Die Neugier des Zuschauers wird durch den unnatürlichen Blickwinkel geweckt, die ersten Charakterisierungen der Figuren werden wortlos, aber doch unmissverständlich etabliert. Während des folgenden Dialogs im Zug werden die Karten bereits offen auf den Tisch gelegt. Die Plot nimmt zügig Fahrt auf und die beiden Hauptfiguren bekommen Profil und Tiefe. Man merkt hier auch bereits, wem die Sympathien des Regisseurs gehören. Robert Walkers Darstellung des labilen Psychopathen, der seine Dämonen hinter einer Fassade aus humorvollem Charisma und Egozentrik verbirgt, ist eine Wucht. Trotz kaltblütigem Mord und skrupelloser Erpressung bleibt er bis zum Schluss eine faszinierend ambivalente Figur. So bedrohlich, wie anziehend, erinnert er zuweilen an Joseph Cotten in SHADOW OF A DOUBT. Ohne Frage einer der ganz großen Hitchcock-Bösewichte.
Farley Grangers versnobter Tennis-Champ dagegen wirkt blass, stets etwas unsicher und wird dem Zuschauer nie richtig sympathisch. Er ist in diesem Spiel das unschuldig verfolgte Opfer, ganz eindeutig, doch Hitchcock verleitet das Publikum immer wieder dazu, mit Bruno mitzufiebern - selbst als er den Mord an Miriam Haines begeht.
Und was ist das für eine geniale Mord-Sequenz! Nachdem er die junge Frau in einem Vergnügungspark durch verschiedene Attraktionen verfolgt hat, kommt es auf einer nahegelegen Insel zum Verbrechen, dass nur durch die Spiegelung in den Brillengläser des Opfers zu sehen ist. Der Spannungsaufbau ist behutsam und doch gnadenlos. Es wird passieren, soviel ist klar. Aber Bruno lässt sich Zeit und wartet auf die richtige Gelegenheit. Der Trubel des Rummels, irreführende Schattenspiele, ein spitzer Schrei und am Ende kommt der Tod lautlos und schnell. Genial!

An erinnerungswürdigen Szenen und Einstellungen mangelt es STRANGERS ON A TRAIN wahrlich nicht. Die Episode am Jefferson Memorial beispielsweise, das Feuerzeug im Gullischacht oder das Tennis-Match gegen die Uhr. Und natürlich das furiose Finale auf einem außer Kontrolle geratenen Karussell. Der Nervenkitzel wird gnadenlose auf die Spitze getrieben und die tricktechnisch verblüffende Umsetzung sorgt für einen atemberaubenden Showdown und perfekten Schlusspunkt.

Mit Logik und Wahrscheinlichkeit nahm es Hitchcock ja öfters mal nicht ganz so genau und opferte sie bereitwillig, wenn es darum ging Emotionen und Spannung zu erzeugen. Auch in STRANGERS ON A TRAIN darf man über so manche Fügung und Zuspitzung nicht zu lange nachdenken. Doch zum Glück bleibt das Tempo hoch, und man erfreut sich lieber an der atemlosen Suspense, anstatt sie in Frage zu stellen. Warum Guy Haines nicht sofort zur Polizei geht und die Sache beendet, bevor er sich selbst verdächtig macht? Völlig unlogisch. Aber da geht das Katz-und-Maus-Spiel auch schon in die nächste Runde..

Für Hitchcock war STRANGERS ON A TRAIN damals ein wichtiger Rettungsanker. Nachdem seinen letzten beiden Filmen wenig Erfolg beschieden war, gelang ihm hiermit ein spektakuläres Comeback an den Kinokassen. Aus heutiger Sicht steht der Film zwar im Schatten der großen 50er-Jahre Klassiker, wird aber doch immer wieder genannt, wenn es darum geht, Hitchcock auf seine Quintessenz herunterzubrechen.
STRANGERS ON A TRAIN ist großartig unterhaltendes Thriller-Kino - formal brillant, gewürzt mit bissigem Humor und düsteren Film-Noir Elementen.

8/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Sa 2. Mai 2020, 11:31

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I CONFESS (1953)


Mit düsteren Bildern von engen Kopfsteinpflasterstraßen und ins Halbdunkel abfallenden Gassen beginnt Alfred Hitchcock seinen Film. Wir befinden uns im kanadischen Québec. Einbahnstraßenschilder werden eingeblendet, geben die Richtung vor und führen die Kamera schlußendlich zu einem offenen Fenster, hinter dem soeben ein Mord geschah. Das Opfer liegt mit blutender Kopfwunde am Boden, während der Perlenvorhang an der Tür noch klimpert. Verfolgt von langen Schatten flieht der Mörder im Priestergewand durch die verlassenen Straßen in die Nacht.
Der Mörder ist Otto Keller, ärmlicher Küster einer örtlichen Kirche, der seine Tat prompt Pater Logan (Montgomery Clift), dem Hilfspfarrer der Gemeinde, beichtet. Ursprünglich wollte er Geld stehlen, sagt Keller, doch er wurde auf frischer Tat ertappt und musste sich des Zeugen mit Gewalt entledigen. Für Pater Logan wird die Lage prekär, als er erfährt, dass das Mordopfer der Anwalt Villette ist. Villette nämlich wusste Bescheid über die romantische Beziehung des Priesters zur verheirateten Ruth Grandfort (Anne Baxter) und hatte das Paar erpresst.
Der Mord selbst gerät schnell in den Hintergrund, denn die titelgebende Beichte ist das zentrale Motiv, um das Drama in Wallung zu bringen. Der Mörder Otto Keller macht mit seinem perfiden Geständnis Pater Logan zum Mitwisser und bald auch zum Hauptverdächtigen. Er wälzt die Schuld ab auf einen Unschuldigen, der allerdings ebensogut der Mörder sein könnte. Der getauschte Mord - das Motiv aus STRANGERS ON A TRAIN steht hier erneut im Fokus.
Nachdem die verliebt-naive Ruth in guter Absicht, ihr Verhältnis mit dem Geistlichen bei der Polizei gesteht, zieht sich die Schlinge um Pater Logans Hals zu. Alle Indizien weisen ihn als einzig möglichen Mörder aus. Nur er selbst kann die Beweise entkräften, indem er das Beichtgeheimnis bricht und sein Wissen offenbart.
 
Die fatalistische Unausweichlichkeit der Geschehnisse, anfangs symbolisiert durch die Straßenschilder, zieht sich durch die komplette Geschichte. Der Weg ist vorgegeben, sei es durch weltliche oder katholische Gesetzgebung. Und natürlich ist es ein Leidens- bzw. Kreuzweg, den die geistliche Hauptfigur beschreiten muss um sich rein zu waschen. Denn frei von Schuld ist sie nicht, wenn dem Zuschauer auch, bis auf diffuse Hinweise, nicht gezeigt wird, worin diese genau besteht.
I CONFESS ist ein vielschichtiger, sehr ernsthafter Film. Hitchcock verzichtet weitgehend darauf, die Szenerie mit seinem typischen Humor aufzulockern. Die pessimistische Atmosphäre, die im religiösen Gewissenskonflikt von Pater Logan ihren Ursprung hat, bietet nur kurze Momente leiser Hoffnung. Da diese Hoffnung jedoch darin besteht, dass ein ehernes Gesetz der katholischen Kirche gebrochen werden soll, bleibt sie nichts weiter als ein Trugschluss.
Später bemängelte der Regisseur, dass das verzweifelte Schweigen des Pfarrers für Nicht-Katholiken kaum nachvollziehbar sei, und somit das ganze Filmkonstrukt in sich zusammenfällt.
Damit übertreibt er zwar, aber aus logischer Sicht, hätte Pater Logan vor Gericht zumindest darauf verweisen können, dass er aufgrund seines Schweigegelübdes nichts zur Identität des Mörders sagen kann, ohne dieses zu brechen.
Für Freunde der nachvollziehbaren Handlungskonstruktion gibt es aber bereits früher, bei der Erklärung der Beziehungen und Verstrickungen zwischen den verschiedenen Figuren die ein oder andere Unwahrscheinlichkeits-Kröte zu schlucken.
Das lässt sich allerdings verschmerzen, da der Plot bereits früh seine unterschwellige Spannung entfaltet und den Zuschauer sowohl mit einem Wissensvorsprung als auch mit einigen ungewissen Leerstellen verunsichert.

Die Bildsprache würde ich am ehesten als Erhaben bezeichnen. Vielsagende Nahaufnahmen von Gesichtern, oft aus der Untersicht, dominieren, und werden von überraschend zahlreichen Außenaufnahmen von Québec und der kanadischen Provinz begleitet.
Immer wieder reichen Blicke aus, um zu verstehen, was gerade im Inneren der Figuren vorgeht. Dazu trägt natürlich auch der großartige Cast bei, der bis in die Nebenrollen glänzen kann. Montgomery Clift liefert eine minimalistische Meisterleistung, während O.E. Hesse als hinterlistiger Mörder genau das richtige Maß an Overacting trifft. Anne Baxters Charisma ist bezaubernd und Karl Malden als Inspektor bedrohlich und faszinierend zugleich.

Diese Vokabeln finde ich auch passend, den gesamten Film zu beschreiben: Bedrohlich und Faszinierend. Wie das prachtvolle Château Frontenac, das als unheilvolle Kulisse für die Titelsequenz dient.


7/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Fr 29. Mai 2020, 21:26

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TORN CURTAIN (1966)

In TORN CURTAIN setzt sich Paul Newman, als US-Wissenschaftler Michael Armstrong während einer Konferenz in Norwegen überraschend nach Ost-Berlin ab. Dort gibt er sich als amerikanischer Überläufer aus, um dem angesehenen Uni-Professor Lindt (Ludwig Donath) die Formel für ein Raketenabwehr-System zu entlocken. Ahnungslos aber verletzt folgt Sarah Sherman (Julie Andrews) ihrem Verlobten hinter den eisernen Vorhang und wird ebenfalls Teil des riskanten Doppelagenten-Komplotts. Nachdem alle Karten auf dem Tisch liegen, der MacGuffin ergattert, und die romantischen Wirrungen aufgedröselt wurden, folgt die turbulente Flucht aus dem feindseligen Land in Richtung Happy End.
 
Ein so schönes wie verlässliches Merkmal der Filmographie von Alfred Hitchcock ist, dass sich selbst in den schwächeren Werken noch Momente purer Klasse und Größe entdecken lassen. Schaut man Hitchcock, wird man belohnt. Soviel ist gewiss.
 
In seinem 50. und viertletztem Film begibt sich der Regisseur auf altbekanntes Terrain, und arbeitet sich erneut an einer wendungsreichen Spionagegeschichte mit doppeltem Boden ab. Dem politisch angehauchten Thrill stellt Hitch etwas Romantik und Dramatik zur Seite und hat damit auf dem Papier einen Film, der sich wunderbar neben THE 39 STEPS und NORTH BY NORTHWEST einreihen könnte. Nur leider will die Modernisierung der bewährten Topoi nicht recht gelingen und TORN CURTAIN bleibt über weite Strecken eine träge und emotionslose Angelegenheit. Die Geschichte wird von Beginn an seltsam undynamisch und ungelenk erzählt. Das Drehbuch holpert arg und versucht seine Figuren irgendwie an die plotrelevanten Punkte zu bugsieren. Mehr schlecht als recht gelingt das zwar, allerdings nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Das absolut dilettantische Verhalten Newmans im Vorfeld seiner streng geheimen Spionage-Mission sorgt bereits für ausgiebiges Stirnrunzeln und es wird leider nicht besser, nachdem er in der DDR gelandet ist. Zum Glück für ihn stellt sich die Staatssicherheit auf der Gegenseite ebenfalls nicht klüger an.
Wenig hilfreich ist, dass der Film solche inhaltlichen Schwächen auch nicht durch mitreissende Actionszenen oder spektakuläre Schauwerte kaschieren kann. Es scheint als hätten die großen Stars in den Hauptrollen bereits den Löwenanteil des Budgets gefressen und für aufwändige Inszenierungen oder überzeugende Effekte war schlicht kein Geld mehr da.
Dabei sind es eben genau Paul Newman und Julie Andrews, die mit dafür sorgen, dass der Film misslingt. Newman wirkt weder als Wissenschaftler noch als Spion und auch nicht als liebender Verlobter überzeugend. Nichts davon kauft man ihm ab. Er bleibt eine attraktive aber kalte Hülle. Noch schlimmer erwischt es Julie Andrews, die nicht nur total blass spielt sondern für die Geschichte schlicht und ergreifend überflüssig ist.
 
Als interessanten Kniff erzählt Hitchcock das erste Drittel der Geschichte aus Sicht der ahnungslosen Sarah. Das soll für den gewünschten Überraschungseffekt sorgen, dass ihr Verlobter eben doch kein Überläufer ist. Gut gemeint, doch das Problem ist, dass der Zuschauer niemals ernsthaft glaubt, Newmans Figur könnte wirklich ein Landesverräter sein. Nicht Paul Newman, nicht in einem Hitchcock-Film.

Im Gedächtnis wird mir sicherlich der lautlose und quälend langgezogene Mord an Stasi-Agent Gromek (toll: Wolfgang Kieling) bleiben. Hitchcock inszeniert die Tat als Gegenentwurf zu den „Peng-Tot“-Szenen, die zu der Zeit, auch durch die 007-Filme, im Kino üblich waren. Die Logik wird hier großzügig beiseite geschoben, doch in dieser Sequenz ist das richtig und wichtig um die Suspense zu erzeugen. Genauso braucht es die Unbeholfenheit mit der der fiese Gromek zunächst mit einer Suppenschüssel, dann mit einem Messer, einem Kochtopf und schlussendlich per Gasofen ins Jenseits befördert wird. So einen Mord gab es bei Hitch noch nie, das muss man gesehen haben.

Ob man TORN CURTAIN unbedingt gesehen haben muss?
Von Hitchcock gibt es Besseres aus diesem Genre. Viel Besseres.
Aber zu entdecken gibt es auch in diesem Film so manches Glanzlicht - und sei es nur eine kurze, aber wundervolle Einstellung, hinab in ein vor flüchtenden Menschen wimmelndes Treppenhaus.

4/10

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Blaupause
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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Mi 24. Feb 2021, 16:05

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FRENZY (1972)

Mit einem prächtigen Helikopterflug über die Themse, hin zur imposanten Tower Bridge, eröffnet Alfred Hitchcock seinen vorletzten Film. Den ersten, den er nach beinahe 20 Jahren wieder in seiner Heimat England realisierte.
Doch die schillernde Oberfläche Londons bestimmt nur kurz das Bild, schnell geht es tief hinein in die pulsierenden Eingeweide der Metropole. Mitten in das emsige Treiben des alten Marktviertels Covent Garden, das der Geschichte den passend hektischen Rahmen verleiht. Verwinkelte Gassen, bunte Obst- und Gemüsestände, volle Pubs, Lärm, Verkehrschaos. Mühsam verborgene menschliche Abgründe an jeder Ecke.

Ein Serienkiller hält die Stadt in Atem!
Gerade wurde wieder eine Frauenleiche aus der Themse gefischt, nackt und erdrosselt mit einer Krawatte - wie die Opfer zuvor. Durch mehrere unglückliche Fügungen fällt der Verdacht der Ermittler schon bald auf Richard Blaney (Jon Finch), der seinen spärlichen Lohn als Barkeeper im Viertel verdient. Er wird zum Verfolgten, zum öffentlich gesuchten Verbrecher, der seine Unschuld beweisen muss. So weit, so Hitchcock.
Doch Blaney taugt absolut nicht zum tragischen Helden in der Tradition eines Roger Thornhill (NORTH BY NORTHWEST) oder Richard Hannay (THE 39 STEPS). Er ist ein cholerischer Taugenichts und Trinker, skrupellos und stets auf Krawall gebürstet. Eine der unsympathischsten Hitchcock-Figuren aller Zeiten wird dem Publikum als Protagonist aufs Auge gedrückt, während der eigentliche Mörder, der befreundete Obsthändler Bob Rusk (Barry Foster), zunächst als charmant, gutaussehend und hilfsbereit eingeführt wird. Eine Zumutung, die bestens zur zynischen Grundstimmung des Films passt und die im weiteren Verlauf noch eine perfide Steigerung erfährt. Denn Hitchcock schafft es scheinbar mühelos, das Publikum in einer späteren Suspense-Szene plötzlich mit Rusk mitfiebern zu lassen, der zu diesem Zeitpunkt bereits ausgiebig als sadistischer Frauenmörder etabliert wurde.

Apropos: Die Gewalt in FRENZY ist erschütternd. Hitchcock war nie drastischer. Vor allem die zwei zentralen Mordsequenzen, die komplett unterschiedlich umgesetzt wurden, brennen sich ins Gedächtnis.
Die Erste kommt unerwartet heftig und offenbart den Killer in seiner rasenden, triebgesteuerten Brutalität. Der Todeskampf wird quälend in die Länge gezogen. Schnelle, harte Schnitte und unerwartet grausame Bilder sorgen für das gewünschte Entsetzen. Ein heftiger Schlag in die Magengrube, der die Handlung in Gang setzt und dessen Nachwirkungen den Film noch bis zum Abspann begleiten.
Den zweiten Mord, der ausgerechnet die sympathischste Figur des Films trifft, zeigt Hitchcock gar nicht - er lässt ihn im Kopf des Zuschauers ablaufen, der zu diesem Zeitpunkt bereits schmerzlich vertraut ist mit der Vorgehensweise des Killers. Nachdem das Schicksal des Opfers besiegelt ist, gleitet die Kamera langsam rückwärts von der sich schließenden Wohnungstür weg, das Treppenhaus hinunter, durch den Flur hinaus auf die belebte Straße, deren Lärm jegliche Schreie verschluckt. Man sieht von außen die Fenster, es ist nichts zu erkennen vom grausamen Mord, der sich dahinter soeben abspielt. Ein großartiger Hitchcock-Moment!

FRENZY hat aber nicht nur düsteren Thrill und abstoßende Gewalt zu bieten, sondern lässt stets eine ordentliche Prise Humor mitschwingen. Manchmal tiefschwarz und britisch, beispielsweise als sich zwei Richter an der Pub-Theke über die touristischen Vorteile unterhalten, die sich durch die anhaltende Mordserie für die Stadt ergeben.
An anderer Stelle wird die Komik aber auch gekonnt mit der groben Kelle serviert, wie während der grandios absurden Kartoffellaster-Szene in der Rusk gegen die Leichenstarre seines letzten Opfers ankämpft. Oder wenn der Inspektor beim Abendessen an den experimentellen Kochkünsten seiner Frau verzweifelt.

Ganz nebenher ist der Film ein wunderbares Zeitdokument, das die Atmosphäre der Londoner Arbeiterviertel Anfang der 70er mit tollen Bildern einfängt und festhält. Dafür bewegte sich der bekennende Studio-Fan Hitchcock ungewöhnlich häufig heraus aus seiner Komfortzone und drehte viele der Außenaufnahmen an belebten Original-Schauplätzen.

FRENZY ist das letzte große Aufbäumen. Der künstlerische Rundumschlag eines Regisseurs, der alles erreicht hat und niemand mehr etwas beweisen muss. Schroff, streitbar, mitreissend - der finstere Höhepunkt im Spätwerk Alfred Hitchcocks.

8/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Di 16. Nov 2021, 21:43

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THE WRONG MAN (1956)

 
Mitte der 50er war es mal wieder soweit. Alfred Hitchcock hatte zuletzt mit dem kostspieligen Hochglanz-Remake THE MAN WHO KNEW TOO MUCH, einem schwarzhumorigen Abstecher ins Komödienfach mit HARRY und Gaunereien mit Cary Grant im sommerlichen Nizza erfolgreiche, aber doch eher leichte Kost abgeliefert. Es schien also wieder mal die richtige Zeit, die in ihn gesetzten Erwartungen zu unterlaufen und das Publikum vor den Kopf zu stoßen. Nicht zum ersten (SABOTAGE) und auch nicht zum letzten (PSYCHO) Mal in seiner Karriere, erlaubte sich Hitchcock das persönliche Vergnügen eines stilistischen Ausreißers, der sich auf die eine oder andere Weise deutlich von seinem restlichen Oeuvre abgrenzt. 
Er drehte THE WRONG MAN.
Es wurde einer seiner finstersten Filme - und einer für die Bestenlisten!

Henry Fonda spielt Manny Balestrero, einen unbescholtenen Familienvater, der sich den Lebenserhalt für seine Liebsten als Bassist in der Band eines New Yorker Nobel-Clubs erspielt. Die Gage reicht mehr schlecht als recht und eine teure Zahnbehandlung für Mannys Ehefrau Rose (Vera Miles) ist nur mit einem Kredit bei der Versicherung zu stemmen. Doch die finanziellen Probleme treten in den Hintergrund, als Manny eines Abends aus heiterem Himmel vor seinem Haus verhaftet wird. Die Polizei bezichtigt ihn mehrere Raubüberfälle begangen zu haben, unter anderem auf die Kasse seiner eigenen Versicherungsgesellschaft.
Die verfügbaren Augenzeugen, sowie die ermittelnden Detectives sind sich sicher: Manny ist der Täter, ohne Zweifel! Er wird angeklagt, eingesperrt und muss sich einem quälend aussichtslosem Gerichtsverfahren stellen. Hilfe bekommt er einzig von Anwalt O’Connor (Anthony Quayle) und seiner liebenden Frau Rose (Vera Miles), deren kämpferischer Eifer aber schon bald in Resignation und Depression umschlägt. Die Tragik ihrer Figur rückt in der zweiten Hälfte des Films immer mehr in den Mittelpunkt. Am Schluss ist es ihr Schicksal, an dem der Zuschauer zu knabbern hat - anders als ihrem Ehemann Manny kann ihr keine glückliche Fügung mehr helfen. Ein durch und durch deprimierendes Ende, daran ändert auch eine angehängte Texttafel nichts, die ein halbgares Happy End suggerieren soll.

Bevor der Film allerdings auf Rose und ihren psychischen Niedergang umschwenkt, kann man Hitchcock dabei zusehen, wie er sein Lieblings-Motiv vom unschuldig Verdächtigten wieder einmal gekonnt variiert und auf überraschende Weise neu erzählt. Da die Handlung auf einer wahren Begebenheit beruht, entschied er sich, möglichst realitätsnah vorzugehen und nach Möglichkeit auf fiktionale Elemente zur künstlichen Dramatisierung zu verzichten. Nur in zwei prägnanten Szenen während Mannys Gefängnisaufenthalts, wagt es Hitchcock, die Gefühlswelt seines Protagonisten mittels Kamera- und Spezialeffekten zu verbildlichen. Ansonsten bleibt die Inszenierung zurückhaltend, die Geschichte und ihre zunehmende Intensität stehen im Fokus. Die Schlinge zieht sich immer enger und als Zuschauer wird man ebenso überrollt und mitgerissen, wie Manny selbst. Man ist enger Beobachter und Begleiter, aber die Figuren kehren ihre Inneres nicht nach außen.
Unterstrichen von den kontrastreichen s/w Bildern und dem dezenten Soundtrack  ist THE WRONG MAN tatsächlich meist mehr Dokumentation als Drama. Einzig wenn es darum geht, das Gefühl der Machtlosigkeit im Angesicht der Staatsmacht zu transportieren, zieht der Film alle Register. Nie hat Hitchcock sein frühkindliches Polizei-Trauma eindringlicher und bedrohlicher auf die Leinwand gebracht. Selten wirkte ein Protagonist hilfloser in den Fängen der Autoritäten. 
 
Henry Fonda, wenn auch etwas zu alt für die Rolle, spielt das mit perfekter Zurückhaltung und trägt entscheidend zum Gelingen des Films bei. Der markante Schauspieler verschwindet völlig hinter der Rolle des braven Familienvaters, der sich bis zum Schluss an die naive Hoffnung klammert, dass ein unschuldiger Mann nichts zu befürchten hat vor dem Gesetz. Eine ebenso grandiose, wie bedrückende Leistung liefert auch Vera Miles, die liebende Ehefrau, die an Zweifeln und Schuldgefühlen zerbricht. Da die junge Schauspielerin kurze Zeit später schwanger wurde, konnte sie die, für sie vorgesehene, Hauptrolle in VERTIGO nicht übernehmen und fiel folglich bei Hitchcock in Ungnade.

Nach all den farbenfrohen Ausschweifungen der letzten Filme gelang Hitchcock mit THE WRONG MAN ein so mitreißendes wie niederschmetterndes Werk, das lange nachhallt.

„That's fine for you. You can go now.“


 9/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Fr 14. Jan 2022, 21:09

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YOUNG AND INNOCENT (1937)

Another innocent man on the run…
Mit seinem ersten Film nach der Arbeit für die Gaumont-British-Studios verfilmt Alfred Hitchcock den Roman „A Shilling for Candles“ von Josephine Tey und liefert eine heitere Thrillerkomödie ab, die sich erneut um sein Lieblingsmotiv dreht. Anders als beim 2 Jahre zuvor erschienenen THE 39 STEPS oder dem späteren SABOTEUR gibt es hier für den Helden kein verzwicktes Spionagekomplott aufzudecken und Hitchcock belässt es allgemein bei einem äußerst rudimentären Krimi-Plot. Im Prolog des Films geschieht ein Mord, mutmaßlich nach einem heftigen Ehestreit. Den Streit bekommen wir zu sehen, die Gewalttat selbst nicht. Der Leichenfund am nächsten Tag löst dann eine Kette an Zufällen aus, die die Geschichte in Gang bringen und weder die Rolle des Opfers noch das Motiv des Täters werden im weiteren Verlauf nennenswert vertieft. 

Die Geschichte von YOUNG AND INNOCENT konzentriert sich vielmehr auf das außerordentlich sympathisch gezeichnete Protagonisten-Pärchen - den unter Verdacht geratenen Robert (Derrick De Marney) und Erica (Nova Pilbeam), die Tochter des Polizeichefs - das während seiner Flucht und dem Versuch ein gestohlenes Beweisstück zu finden eine unterhaltsame Episode an die nächste reiht. Das reicht vom amüsanten Besuch einer Kindergeburtstagsfeier über einen gerade noch verhinderten Sturz in die Tiefe eines verlassenen Bergwerks bis zum Finale im Grand Hotel, bei dem sich der Mörder schlussendlich selbst entlarvt. Zwischendurch darf man sich noch an einer zünftigen Kneipenschlägerei, witzigem Katz- und Mausspiel mit der Polizei oder einer Kamerafahrt über die putzigen Miniaturbauten eines Bahnhofs samt regloser Puppen unseres Helden-Duos erfreuen. 
Während alldem lässt Hitchcock mit ungewohnter Einfühlsamkeit die Gefühle zwischen den beiden jungen Menschen erblühen und verleiht der Geschichte einen zärtlichen Touch, den man so von ihm nicht kennt.

Als besonderer Hitchcock-Moment bleibt eine großartige Kamera-Kranfahrt gegen Ende im Gedächtnis, die in der Totalen auf einen Ballsaal voller Menschen beginnt, über tanzende Paare hinweg schwenkt und sich langsam der Musikkapelle nähert, um schließlich nur wenige Zentimeter vor dem Augenpaar des Mörders zu verharren. Jahre später verwendete Hitchcock diese Technik erneut eindrucksvoll für die berühmte Schlüsselszene in NOTORIOUS.
Leider hat die Sequenz in YOUNG AND INNOCENT einen gewaltigen Makel. Die Musiker der Swing-Band, unter denen sich der Mörder befindet, absolvieren ihren Auftritt komplett in ‚blackface‘. Aus heutiger Sicht ist das kaum zu ertragen und nur schwer zu glauben, dass das im England der 1930er scheinbar noch Gang und Gäbe war. Hitchcock baute dieses verwerfliche „Kulturgut“, das auf die amerikanischen „Minstrel Shows“ zurückgeht, in seinen Film leider auch noch plot-relevant ein.

Davon abgesehen..

Als ‚amerikanischster’ Film seiner britischen Schaffensperiode gleitet YOUNG AND INNOCENT entspannt und meist kurzweilig durch seine 80 Minuten Laufzeit, verzichtet weitestgehend auf intensivere Spannungsszenen und bleibt im Großen und Ganzen ein harmloses Film-Vergnügen, dessen anfänglicher Mord lediglich als MacGuffin dient, um die romantische Heldenreise in Gang zu setzen. 
Ein guter Film, der für meinen persönlichen Hitchcock-Geschmack aber etwas zu süßlich ausgefallen ist und daher nur einen soliden Mittelfeldplatz im Gesamtwerk des Regisseurs einnimmt. 
 
6/10

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Re: Blaupause schaut Hitchcock

Beitrag von Blaupause » Di 18. Jan 2022, 13:23

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SECRET AGENT (1936)

MIt SECRET AGENT versuchte sich Alfred Hitchcock an einem würdigen Nachfolger für seinen stilbildenden Erfolgsfilm THE 39 STEPS, scheiterte deutlich und bekam trotzdem eine solide Spionage-Groteske hin, gespickt mit großartigen Einzelszenen. Die innovative Figuren-Zeichnung, die erstmals den Bösewicht als jungen, sympathischen Charmeur einführt und den Helden zum inaktiven Zweifler degradiert, machen den Film zusätzlich sehenswert.

John Gielgud spielt den britischen Geheimagent Richard Ashenden, der in die Schweiz entsandt wird, um dort einen Spion auszuschalten, von dem er weder Gesicht noch Namen kennt. Unterstützung erhält er vor Ort von Madeleine Carroll, die die unbedarfte Neu-Agentin Elsa spielt und dem Profi-Killer ‚The General‘ - ein infantiler Paradiesvogel verkörpert von Peter Lorre.
Nachdem man die mutmaßliche Zielperson entdeckt, und per inszeniertem Bergsteiger-Unfall ausgeschaltet hat, muss das Trio bald feststellen, dass sie den falschen Mann von der Klippe gestoßen haben. Der tragische Irrtum, der einem Unschuldigen das Leben kostete, sorgt für einen abrupten Stimmungswechsel im Film, der bis dahin das Agenten-Leben allzu humorvoll und sorglos darstellte. Die Protagonisten müssen sich zunächst ihrer eigenen Schuld stellen, bevor es im Finale zur (kaum überraschenden) Enthüllung des wahren feindlichen Spions kommt. Konsequenterweise wird dieser dann ohne Zutun unserer „Helden“ zur Strecke gebracht.

Als Thriller gibt SECRET AGENT wirklich nicht allzu viel her. Absurde Zufälle und unlogische Handlungen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film und Hitchcock scheint es darauf anzulegen, dem Zuschauer ein für allemal klar zu machen: „Die Wahrscheinlichkeit interessiert mich nicht!“ (Hitchcock/Truffaut)
Dazu ein wenig überzeugendes Hauptdarsteller-Trio, das einerseits viel zu blass bleibt (Gielgud & Carroll), anderseits maßlos übertreibt (Lorre) und allgemein wenig Heldenhaftes an sich hat.
Der atmosphärische Stimmungswechsel zur Mitte ist zwar eine Hitchcock-Spezialität, wirkt hier aber noch etwas holprig. Zum schmunzeln ist dagegen das klischeebeladene Schweizer Lokalkolorit, inklusive Seilbahnfahrt, Blasmusik und einer Schokoladenfabrik als Geheimversteck feindlicher Spione.

Glücklicherweise kann man mit SECRET AGENT auch Spaß haben, obwohl das Ganze nicht mehr als die Summe seiner Einzelteile ist. Der ‚frühe‘ Hitchcock beweist hier bereits sein außerordentliches Gespür dafür, wie einzelne Szenen aufgebaut sein müssen, um den größtmöglichen Effekt auszulösen.
Absolut großartig beispielsweise der Fund des toten Organisten, der über seinem Instrument zusammengebrochen, einen letzten langen Ton spielt, der die Szene beunruhigend untermalt.
Oder der Klippensturz des unschuldig Verdächtigten. Die Tat selbst ist zwar denkbar unspektakulär inszeniert, aber der lange Aufbau und die parallel montierte Szene, in der der Hund des Todgeweihten das Unheil zu wittern scheint, verleihen der Sequenz eine geschickte Dramatik.
Der Showdown im fahrenden Zug, samt Twist und dem finalen großen Knall, ist zwar wieder etwas plump geraten, aber mit ruckelnden Eisenbahnabteilen als Set kann Hitch einfach immer etwas anfangen.

„Der Film war voll von Ideen, aber im Ganzen etwas missglückt“

Volle Zustimmung, Mr. Hitchcock!

6/10

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