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Von Richard Laymon bis zu Tolstoi: Die Abteilung für Leseratten.
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Pow Wow
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Re: Now Reading

Beitrag von Pow Wow » Mi 22. Jul 2020, 15:25

THE ROOM WHERE IT HAPPENED von John Bolton

Im Urlaub gelesen. Ich tu' mir ja eher selten Sachbücher an, in diesem Fall hat es sich aber wirklich gelohnt, hätte nicht gedacht das mir das so gefällt. Vorab: Über Trump lernt man hier nichts, was man nicht schon wüsste und Bolton kommt arg selbstverliebt und wichtigtuerisch rüber, seine Vendetta gegen Haley und Mattis kindisch. Aber gerade von der Kritik bemängelte Punkte sind eine unglaubliche Stärke des Buches: akribische Detailbeschreibungen, genaueste psychologische Beobachtungen, minutiöse Protokollaufzeichungen. Entweder man fühlt sich vom Material bleischwer erschlagen oder kann nicht aufhören zu lesen. Es ist ein einzigartiger Schlüsselloch-Blick in die internationale Politikwelt und was auch seine sonstigen Defizite sein mögen, ich habe nie eine Sekunde an der Integrität oder Glaubhaftigkeit der im Buch geschilderten Vorgänge gezweifelt. Henry James als Sachbuch, Denver-Clan als Hardcover-Politikoper. Dicke Empfehlung.
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Re: Now Reading

Beitrag von Pow Wow » Mi 22. Jul 2020, 16:38

WAS MAN SÄT von Marieke Lucas Rijneveld

Nächster Fräuleinwunder-Literaturschocker, diesmal aus den Niederlanden und mit ausgeprägterem belletristischem Duktus als Dieudonné. Zwölfjähriges Mädchen versucht den Tod des Bruders zu verarbeiten. Hatte sich beim Gott gewünscht, dass Bruder statt dem Lieblingshasen dran glauben muss und hat jetzt schlechtes Gewissen. Lebt mit ultrachristlicher Familie auf Bauernhof, die langsam aber sicher elendst zerfällt. Naja, mochte das jetzt nicht so, liest sich wie 'ne hoffnungslos mürrische und besonders schlechtgelaunte Mischung aus Haneke und von Trier. Alle paar Seiten wird 'ne schön eklige Szene ausgebreitet um die Leserschaft bei Laune zu halten, Prosa ist dafür besonders angestrengt poetisch. Und normalerweise lese ich über so etwas hinweg, aber die angeblich 12jährige Erzählerin hört sich an wie eine Kreuzung aus einer fünfjährigen frisch aus dem Kindergarten und einer sechzigjährigen Creative Writing Fernstudentin. Könnte hier vielleicht für den ein oder anderen von Interesse sein und wird als heißer Kandidat für den International Booker Prize gehandelt, aber - me not like.
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Beitrag von Pow Wow » Mi 22. Jul 2020, 17:09

DIE EINWILLIGUNG von Vanessa Springora

In dt. Übersetzung gelesen. Protokoll einer missbräuchlichen Beziehung in den 80ern zwischen der damals 14jährigen Autorin und dem über 50jährigen Literaten GM (Gabriel Matzneff). Als Dokufiction angelegt hat der Roman in Frankreich hohe Wellen geschlagen, als literarischen Text fand ich's nur bedingt gelungen. Springer fehlt hier das Handwerk, das ist psychologisch nicht besonders aufschlussreich (fehlender Vater, Bedürfnis nach Liebe - empfänglich für die Avancen des alten Herren), formal ist es ein bisschen wie Bret Easton Ellis in White. Mal Traktat, mal soziologische Studie, mal 68er Abrechnung, mal Literaturanalyse - die 1-2 Seiten zu Nabokov und Lolita hat man so auch schon x-mal gelesen. Interessant, aber unausgegoren.
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Beitrag von Pow Wow » Fr 24. Jul 2020, 09:42

DER UNGARISCHE SATZ von Andrej Nikolaidis

Hab das im Original gelesen. Der Autor verarbeitet den Selbstmord des besten Freundes (oder eines Alter Egos?) während der Zugfahrt von Budapest nach Wien in einem einzigen, hundertseitigen Satz. Montenegrinische existential angst in der viel gegrübelt wird, u.a. über: Jugoslawische Geschichte, die Flüchtlingskrise, Walter Benjamin und den der Misantrophie innewohnenden Humanismus. Hat mir gefallen.
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Beitrag von Pow Wow » Fr 24. Jul 2020, 09:54

THE HUNGER von Alma Katsu

Literarische Neubearbeitung der unglückseligen Donner Party. Sehr atmosphärisch, mit leichten, nie aufgesetzt wirkenden übernatürlichen Anklängen, tollen Charakterisierungen und klasichtigem Blick auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse. Danach wird man natürlich sofort alle Details der "real story" googeln wollen. Schön.
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Beitrag von Pow Wow » Fr 24. Jul 2020, 10:04

THE LAST TIME I LIED von Riley Sager

Nächster Wurf vom Autor des Sensationserfolgs FINAL GIRLS. Fand ich besser als den Vorgänger. Pulpige Mixtur aus Domestic Noir und Teenie Thriller/ Slasher in einem Sommercamp. Sehr solide zusammengestückelt, allerdings mit recht nerviger Hauptprotagonistin. Reicht selbstredend nicht an die Gillian Flynns dieser Welt heran, man kann sich aber prima für ein regnerisches Wochenende mit einkuscheln. Davon abgesehen interessant: Bei diesen ganzen Domestic Noir-Thrillern gibt's immer mehr Männer, die mit geschlechtsneutralen Pseudonymen arbeiten (A.J. Finn, Riley Sager etc.) - bin bei Finn und Sager damals bei Final Girls auch drauf reingefallen. Siehe hier: https://www.theatlantic.com/entertainme ... ks/535671/
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Beitrag von Pow Wow » Fr 24. Jul 2020, 10:19

SWIMMING IN THE DARK von Tomasz Jedrowski

Gay love story im bösen kommunistischen Polen der 80er Jahre. Bisweilen ist das ganz süß zu lesen aber breitet dann die großen Themen aus (Identität, Widerstand, Heimatflucht etc.). Wäre ja ok, wenn der Autor dem ganzen gewachsen wäre, aber die Prosa artet bisweilen sehr in eine beifallheischende Creative Writing Kitschparade aus: Little sparks can start fires. Hätte Oprah nicht besser sagen können. Mir etwas unverständlich, warum das gerade überall ziemlich euphorisch besprochen wird. Hatte ich aber bei Ocean Vuong schon nicht verstanden, daher - wem's gefällt.
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Re: Now Reading

Beitrag von kami » Fr 24. Jul 2020, 10:51

Pow Wow hat geschrieben:
Mi 22. Jul 2020, 15:25
THE ROOM WHERE IT HAPPENED von John Bolton
Das würde ich mir bestenfalls aus dem Netz ziehen, aber niemals kaufen. Bolton, der alte Drecksack, der vor dem Mueller-Ausschuss nicht aussagen wollte, damit er seine Enthüllungen profitabel als Buch präsentieren kann, soll keinen Cent erhalten.

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Re: Now Reading

Beitrag von Pow Wow » Mo 27. Jul 2020, 11:09

JEDER VON UNS BEWOHNT DIE WELT AUF SEINE WEISE von Jean-Paul Dubois

Der aktuelle Goncourt-Preisträger. Ein recht gewöhnlicher Mann sitzt seine Strafe in einem kanadischen Gefängnis ab, lässt sein Leben Revue passsieren, denkt an seinen Vater, einen protestantischen Pastor dänischer Herkunft, seine kinobegeisterte Mutter und die wenigen Momente des Glücks, die ihm vergönnt waren. Das ist alles mitreißend erzählt, eloquent, humorvoll und und durchaus rührend. Fand ich nett & charmant, auch wenn's arg mit Kitsch und Klischees flirtet - inkl. esoterischer Naturverbundenheit der indigenen Völker und gemeiner, profitgesteuerter Immobilienmanager etc. pp.
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Re: Now Reading

Beitrag von Pow Wow » Mo 10. Aug 2020, 12:16

HHhH von Laurent Binet

Nacherzählung des Attentats auf Reinhard Heydrich im Prag des Jahres 1942. Literarischer Pageturner, spannend wie ein Krimi und intertextuelle Spielerei, die sich laufend die Frage stellt, wie mit solchen Stoffen umzugehen ist. Dabei aber völlig unangestrengt. Seltener Fall eines Buches, das spannendes Erzählen und intellektuellen Anspruch scheinbar spielend leicht verbindet. Bin erst durch den Nachfolger "Die siebte Sprachfunktion" auf Binet aufmerksam geworden und kann das neue Buch "Civilizations" jetzt kaum abwarten. In deutscher Übersetzung gelesen. Hat auch einen tollen literarischen Diss aufzubieten. Zu Littells monströsem "Die Wohlgesinnten" heißt es nur lapidar: Houellbecq bei den Nazis. :clap:
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