Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
- dejin
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Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Ich finds... faszinierend.
Im Charakter indirekt auf reale Begebenheiten einzugehen... das ist so borderline-style...
Im Charakter indirekt auf reale Begebenheiten einzugehen... das ist so borderline-style...
The awkward moment when you get in the van and the old man has no candy.
- Julio Sacchi
- Beiträge: 29698
- Registriert: Do 10. Mai 2012, 17:52
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Die Causa Woody Allen finde ich aus verschiedenen Gründen interessant.
1.
Ein Zusammenschluß deutscher Autorinnen und Autoren fordert in einem Brief an ihren Verlag (Rowohlt), daß dieser von einer Veröffentlichung der Allen-Autobiografie absehen möge. Diese Aufforderung wird von den Autoren unter anderem mit der Aussage begründet, sie würden "keinen Grund" sehen, "die Aussagen Dylan Farrows anzuzweifeln".
Nun hat vor einigen Jahren ein amerikanisches Gericht sehr wohl Zweifel an Dylan Farrows Aussagen angemeldet. Was wissen Stokowski, Lobo und Passig, was das Gericht nicht wusste oder wir nicht wissen?
Desweiteren wird in besagtem Brief darauf verwiesen, Allen habe sich "nie überzeugend" mit den Vorwürfen Dylan Farrows auseinandergesetzt. Da stellt sich mir aber schon die Frage, was Allen über sein 2014 veröffentlichtes Statement hinaus, in dem er betonte, an den Vorwürfen sei "nichts dran", zu diesem Schluß sei ja auch "das Gericht gekommen", zu Protokoll geben soll? Ganz egal, was nun war oder nicht, was soll er denn noch sagen? Und wer entscheidet, was überzeugend ist? Ein Gericht oder Lobo und Stokowski?
2.
Um Allens Leumund den Vorwürfen entsprechend zu charakterisieren, wird ja oft seine Beziehung mit Soon-Yi Previn als Beweisführung herangezogen. Das ist besonders interessant. Soon-Yi Previn war zu Beginn ihrer Verbindung über 20 Jahre alt und außerdem weder mit ihm verwandt noch verschwägert und zu keinem Zeitpunkt seine Adoptivtochter. Man kann diese Beziehung natürlich geschmacklos, kurios oder unappetitlich finden. Sie hat aber keine strafrechtliche Relevanz und kann auch nicht als Beleg für eine etwaige pädophile Neigung dienen. Die Empörung darüber ist also eine rein moralische.
Moralische Empörung steht aber den meisten Fällen im Widerspruch zu einer freien Gesellschaft. In diesem speziellen Fall sprechen die Empörten auch noch Soon-Yi Previn das Recht ab, sich ihren Partner selbst auszusuchen. Mitunter wird ihr nachgesagt, sie sei geistig behindert; als könne man sich eine solche Beziehung gar nicht anders erklären.
3.
Was mich immer wieder erstaunt, wenn es um derartige Vorwürfe oder auch nur kollektive Entrüstung geht, ist die offenkundige Selektion. Dieselben Leute, die Allen gern zur Persona non grata ausrufen wollen, beweinen öffentlich und laut das Ableben von Künstlern wie Kobe Bryant, Kirk Douglas oder Burkhard Driest und haben auch kein Problem damit, einen Iggy Pop abzufeiern. Dabei gab es bei jedem dieser Männer hartnäckige Gerüchte, krasse Vorwürfe oder sogar Gerichtsverhandlungen, Urteile oder auch Vergleichszahlungen. Wer entscheidet denn nun, wann man sich von wem zu distanzieren hat? Stokowksi und Lobo? Oder ein Gericht?
4.
Wenn sich nun der amerikanische Verlag Hachette gegen eine Veröffentlichung von Allens Buch entscheidet und der deutsche Rowohlt-Verlag es ihm wohl schlußendlich gleich tut - was sagt das eigentlich aus? Die Vorwürfe gegen Allen sind so alt, da müssen sich doch die Verlage genauso wie ein Timothée Chalamet vor ihrer Zusammenarbeit mit Allen klar über die öffentliche Wahrnehmung gewesen sein. Auf öffentlichen Druck hin ändert man plötzlich seine Meinung - war es dann nicht von Anfang an eigentlich egal? Warum ist es dann jetzt nicht mehr egal? Bedeutet dieser Schritt jetzt noch irgendwas? Ist das nicht so wie bei der flammenden "Time's up"-Rede einer Meryl Streep, die jahrelang weggesehen hat und jetzt plötzlich ein Gewissen entwickelt?
5.
Persönlich fand ich Woody Allen schon immer irgendwie unangenehm, manches an seinen Filmen auch. Das tut aber nichts zur Sache, das ist nur ein Gefühl zu jemandem, nichts weiter. Für manche reicht das.
Es ist schon interessant zu sehen, wie sich Dinge verselbständigen und sich relativ schnell für eine Seite entschieden wird. Schlagzeilentaugliche Aussagen von Ronan Farrow, der sich mittlerweile auch ein bißchen zum "Poster Boy" (SZ) der #metoo-Bewegung stilisiert, verfangen dabei sofort, während die ausführlichen und unaufgeregten Darlegungen von Farrows Sohn Moses weitestgehend ignoriert werden. Zu lang, zu viel, passt nicht ins Narrativ.
Also gehen zweifelhafte Figuren wie Lena Dunham in die Vollen und verkünden, sie wären "decidedly pro-Dylan". Immerhin habe Allen ja Beziehungen zu 17jährigen gehabt. Das stimmt zwar, zum Beispiel zu Schauspielerin Stacey Nelkin, und ich finde das auch ein bißchen oll, auch in seinem Film "Manhattan", aber was beweist das? Daß er junge Dinger mag?
Im selben Auftritt beklagte Dunham übrigens, Amerika sei gerade "at its most puritanical".
Ich verteidige Allen nicht. Ich sage nicht, daß Allen unschuldig ist. Ich weiß es halt nicht. Und die Autoren und Autorinnen des Rowohlt-Verlages wissen es ganz sicher auch nicht.
1.
Ein Zusammenschluß deutscher Autorinnen und Autoren fordert in einem Brief an ihren Verlag (Rowohlt), daß dieser von einer Veröffentlichung der Allen-Autobiografie absehen möge. Diese Aufforderung wird von den Autoren unter anderem mit der Aussage begründet, sie würden "keinen Grund" sehen, "die Aussagen Dylan Farrows anzuzweifeln".
Nun hat vor einigen Jahren ein amerikanisches Gericht sehr wohl Zweifel an Dylan Farrows Aussagen angemeldet. Was wissen Stokowski, Lobo und Passig, was das Gericht nicht wusste oder wir nicht wissen?
Desweiteren wird in besagtem Brief darauf verwiesen, Allen habe sich "nie überzeugend" mit den Vorwürfen Dylan Farrows auseinandergesetzt. Da stellt sich mir aber schon die Frage, was Allen über sein 2014 veröffentlichtes Statement hinaus, in dem er betonte, an den Vorwürfen sei "nichts dran", zu diesem Schluß sei ja auch "das Gericht gekommen", zu Protokoll geben soll? Ganz egal, was nun war oder nicht, was soll er denn noch sagen? Und wer entscheidet, was überzeugend ist? Ein Gericht oder Lobo und Stokowski?
2.
Um Allens Leumund den Vorwürfen entsprechend zu charakterisieren, wird ja oft seine Beziehung mit Soon-Yi Previn als Beweisführung herangezogen. Das ist besonders interessant. Soon-Yi Previn war zu Beginn ihrer Verbindung über 20 Jahre alt und außerdem weder mit ihm verwandt noch verschwägert und zu keinem Zeitpunkt seine Adoptivtochter. Man kann diese Beziehung natürlich geschmacklos, kurios oder unappetitlich finden. Sie hat aber keine strafrechtliche Relevanz und kann auch nicht als Beleg für eine etwaige pädophile Neigung dienen. Die Empörung darüber ist also eine rein moralische.
Moralische Empörung steht aber den meisten Fällen im Widerspruch zu einer freien Gesellschaft. In diesem speziellen Fall sprechen die Empörten auch noch Soon-Yi Previn das Recht ab, sich ihren Partner selbst auszusuchen. Mitunter wird ihr nachgesagt, sie sei geistig behindert; als könne man sich eine solche Beziehung gar nicht anders erklären.
3.
Was mich immer wieder erstaunt, wenn es um derartige Vorwürfe oder auch nur kollektive Entrüstung geht, ist die offenkundige Selektion. Dieselben Leute, die Allen gern zur Persona non grata ausrufen wollen, beweinen öffentlich und laut das Ableben von Künstlern wie Kobe Bryant, Kirk Douglas oder Burkhard Driest und haben auch kein Problem damit, einen Iggy Pop abzufeiern. Dabei gab es bei jedem dieser Männer hartnäckige Gerüchte, krasse Vorwürfe oder sogar Gerichtsverhandlungen, Urteile oder auch Vergleichszahlungen. Wer entscheidet denn nun, wann man sich von wem zu distanzieren hat? Stokowksi und Lobo? Oder ein Gericht?
4.
Wenn sich nun der amerikanische Verlag Hachette gegen eine Veröffentlichung von Allens Buch entscheidet und der deutsche Rowohlt-Verlag es ihm wohl schlußendlich gleich tut - was sagt das eigentlich aus? Die Vorwürfe gegen Allen sind so alt, da müssen sich doch die Verlage genauso wie ein Timothée Chalamet vor ihrer Zusammenarbeit mit Allen klar über die öffentliche Wahrnehmung gewesen sein. Auf öffentlichen Druck hin ändert man plötzlich seine Meinung - war es dann nicht von Anfang an eigentlich egal? Warum ist es dann jetzt nicht mehr egal? Bedeutet dieser Schritt jetzt noch irgendwas? Ist das nicht so wie bei der flammenden "Time's up"-Rede einer Meryl Streep, die jahrelang weggesehen hat und jetzt plötzlich ein Gewissen entwickelt?
5.
Persönlich fand ich Woody Allen schon immer irgendwie unangenehm, manches an seinen Filmen auch. Das tut aber nichts zur Sache, das ist nur ein Gefühl zu jemandem, nichts weiter. Für manche reicht das.
Es ist schon interessant zu sehen, wie sich Dinge verselbständigen und sich relativ schnell für eine Seite entschieden wird. Schlagzeilentaugliche Aussagen von Ronan Farrow, der sich mittlerweile auch ein bißchen zum "Poster Boy" (SZ) der #metoo-Bewegung stilisiert, verfangen dabei sofort, während die ausführlichen und unaufgeregten Darlegungen von Farrows Sohn Moses weitestgehend ignoriert werden. Zu lang, zu viel, passt nicht ins Narrativ.
Also gehen zweifelhafte Figuren wie Lena Dunham in die Vollen und verkünden, sie wären "decidedly pro-Dylan". Immerhin habe Allen ja Beziehungen zu 17jährigen gehabt. Das stimmt zwar, zum Beispiel zu Schauspielerin Stacey Nelkin, und ich finde das auch ein bißchen oll, auch in seinem Film "Manhattan", aber was beweist das? Daß er junge Dinger mag?
Im selben Auftritt beklagte Dunham übrigens, Amerika sei gerade "at its most puritanical".
Ich verteidige Allen nicht. Ich sage nicht, daß Allen unschuldig ist. Ich weiß es halt nicht. Und die Autoren und Autorinnen des Rowohlt-Verlages wissen es ganz sicher auch nicht.
- Bewitched240
- Beiträge: 16662
- Registriert: Di 29. Mai 2012, 00:15
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Vielen Dank für den ausführlichen Text!
Stimme ich absolut zu!
Stimme ich absolut zu!
- SvenT
- Beiträge: 7665
- Registriert: Sa 12. Mai 2012, 02:09
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
#metoo sehe das auch so.
Das Thema ärgert mich schon ne ganze Weile, wobei ich von der deutschen Debatte noch nix wusste.
Die Nummer passt in eine Entwicklung, die mir etwas Angst macht. Dass in der modernen Mediengesellschaft nämlich Kulturschaffende und Journalisten Urteile sprechen, die für die Betroffenen durchaus auch Konsequenzen haben.
Das Thema ärgert mich schon ne ganze Weile, wobei ich von der deutschen Debatte noch nix wusste.
Die Nummer passt in eine Entwicklung, die mir etwas Angst macht. Dass in der modernen Mediengesellschaft nämlich Kulturschaffende und Journalisten Urteile sprechen, die für die Betroffenen durchaus auch Konsequenzen haben.
- Sylvio Constabel
- Beiträge: 31774
- Registriert: Mo 11. Jun 2012, 15:34
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Aber das ist ja wohl nun nichts Neues. Das sagte ich und viele andere schon vor vielen, vielen Monden. Und da hieß es nur, ich verteidige dieses Verhalten und diese Verbrechen.
Bei Sylvio mag ich, er guckt halt auch viel mit dem Herzen. Jimfried Nullinie
- Julio Sacchi
- Beiträge: 29698
- Registriert: Do 10. Mai 2012, 17:52
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Nee. Das stellt sich hier schon etwas anders dar. Ich sage ja auch nicht, daß #metoo und #timesup scheiße sind, ganz und gar nicht. Der Meinung bin ich auch nach wie vor nicht.
- Sylvio Constabel
- Beiträge: 31774
- Registriert: Mo 11. Jun 2012, 15:34
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Alter! Na ich doch auch nicht. Ganz im Gegenteil.
Bei Sylvio mag ich, er guckt halt auch viel mit dem Herzen. Jimfried Nullinie
- Yuki
- Beiträge: 10261
- Registriert: Di 8. Mai 2012, 02:21
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Die Sache mit Allen und Soon-Yi fand ich auch immer etwas merkwürdig, ansonsten hat mich das aber weniger gekümmert und einen Vorwurf hätte ich ihm daraus auch nicht gebastelt .
- Sylvio Constabel
- Beiträge: 31774
- Registriert: Mo 11. Jun 2012, 15:34
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Klopfte ich mir auf die Schulter, bräche ich mir den kompletten Rücken.
Bei Sylvio mag ich, er guckt halt auch viel mit dem Herzen. Jimfried Nullinie
- Thorsten Hanisch
- Moderator
- Beiträge: 26979
- Registriert: Mo 7. Mai 2012, 20:18
- Kontaktdaten:
Re: Aktuelle Missbrauchs-Diskussion
Alles nix Neues. Sag ich schon seit Jahren, wurde dafür von Julio als "Dorftrottel", "Frauenhasser" und - eh klar - "Nazi" beschimpft.
»Wenn man der Klügste im Raum ist, ist man im falschen Raum« (K. Lauterbach)
https://diezukunft.de/users/thorsten-hanisch
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